Ilija Trojanow Was ist das — ein „brauchbarer“ Text?
Die Forderung, Texte an ihrem Gebrauchswert zu messen, steht in der Tradition einer politisch-engagierten Kunstauffassung, in deren Einflussbereich auch die Zeitschrift Wespennest entstand. Was aber lässt sich mit der Bezeichnung „brauchbare Texte“ über vierzig Jahre später anfangen? Ilija Trojanow unternimmt einen Feldversuch.
„Zeitschrift für brauchbare Texte“ lautet die selbstgewählte Bezeichnung für das Wespennest seit seiner Gründung vor mehr als vierzig Jahren. Ich weiß nicht, wer auf diesen Namen gekommen ist und ob die gleichermaßen überraschende wie auch verstörende programmatische Ambiguität beabsichtigt war; ich weiß nicht, ob sich dieser Untertitel aus einer langen Diskussion mit viel Rotwein in einem völlig verrauchten Zimmer ergab oder einer plötzlichen Eingebung eines der frühen Kämpen folgte — das Wespennest ist leider zu klein und finanziell zu schwach, um sich einen hauseigenen Historiker zu leisten (wie etwa der New Yorker), wir können nichts anderes tun, als anhand von leicht vergilbten Fotografien von frühen Redaktionssitzungen müßige Spekulationen anzustellen. Doch unabhängig davon, wie diese Selbstdefinition einst erdacht und beabsichtigt war, die Suche nach „brauchbaren Texten“ bleibt eine ewige Herausforderung, denn es ist bei jedem Heft und für jede Generation neu zu klären, was angesichts der Verschiebungen des Zeitgeistes und der kulturpolitischen Bedingungen „brauchbar“ sein könnte.
Als das Wespennest zum ersten Mal erschien, klang „brauchbar“ wie ein selbstbewusster Widerspruch gegen eine experimentelle Literatur, die in ihrer hermetischen Unüberprüfbarkeit geradezu esoterischen Charakter angenommen hatte. Heute klingt „brauchbar“ wie ein affirmatives Klischee, in Zeiten, in denen so gut wie alles kommodifiziert, ergo mit einem Wert versehen wird, und somit auch jeder Text eine gewisse Nützlichkeit zur eigenen Existenzberechtigung vorweisen muss. Ratgeber und Reiseführer dominieren die Buchhandelsregale, die abendländische Philosophie wird in Maggi-Würfeln abgepackt und in einem Glas Kombucha aufgelöst. Da tut es not, das rebellische und widerständige Moment in „brauchbar“ wieder herauszukitzeln, den inhärenten Anspruch, dass Texte provozieren und irritieren müssen, wollen sie das eigene Denken erweitern und bereichern. „Brauchbar“ beschwört eines jener vielseitig verwendbaren Werkzeuge herauf, mit denen man mal feilen, mal stechen, mal schneiden und mal schrauben kann.
Wie schwierig es ist, das richtige Werkzeug zu finden und auszuwählen, zeigte sich im Oktober dieses Jahres in einem Kulturzentrum nur wenige Schritte von dem Redaktionsbüro in Wien entfernt, wo jeden Dienstag der Versuch unternommen wurde, eine „Schule der intellektuellen Selbstverteidigung“ abzuhalten. Keine halbwegs erfolgreiche Schule kommt ohne gutes und somit „brauchbares“ Lehrmaterial aus. Doch wenn die Schüler und Schülerinnen mitentscheiden dürfen, was sie als brauchbar empfinden, was in dieser basisdemokratischen Schule natürlich der Fall war, gestaltet sich die Suche besonders schwierig. Denn kritische Bürger, das erwies sich in den Diskussionen, leiden heutzutage keinen Mangel an Information, auch nicht an konträrer, alle Binsenwahrheiten und Mythen in Frage stellender Information. Wer tatsächlich jenseits von Propaganda und Werbung nach solider Information sucht und sich nicht mit den Surrogaten abfindet, die etwa im Fernsehen als Nachrichten gehandelt werden, wird ziemlich leicht fündig werden. Eher besteht ein dringendes Bedürfnis nach Analyse und Interpretation, nach Sinngebung und Orientierung. Aber auch dies wird in dem vielfältigen Angebot des Buchmarktes, der unabhängigen Publikationen und des Internets zu einem nicht unerheblichen Teil befriedigt. Kein Einziger der Teilnehmenden äußerte die Befürchtung, die Welt in ihrer oft beschworenen Komplexität nicht mehr zu verstehen. Sehr viele hingegen teilten ihre Sorge mit, die Entscheidungen der so genannten Elite — Politiker, Banker und Wirtschaftsbosse — zunehmend weniger nachvollziehen zu können. Das Unverständnis richtet sich somit weniger gegen die Phänomene als gegen die Reaktionen und die ihnen zugrunde liegenden Prioritäten.
Womit wir bei jenen Texten wären, die im Oktober des Jahres 2012 in einer Großstadt wie Wien, in einem kleinen Land wie Österreich, von etwa hundert kritischen, gebildeten Menschen als besonders brauchbar erachtet werden: Texte, die Alternativen aufzeigen, visionäre Texte, Texte, die gegen den Strom der herrschenden Meinung schwimmen, zukunftsweisende Texte. So sehr wir Texte brauchen, die Gegenwart zu verstehen, so sehr tun offensichtlich Texte Not, die in eine andere Zukunft führen als jene voller düsterer Krisen und Katastrophen, die sich momentan abzeichnet. Womit der Kreis geschlossen wäre: Es gibt Zeiten, da gelten Visionäre als Spinner, und es gibt Zeiten, da gelten sie als geistige Klempner, weil ihre Texte „brauchbarer“ (= notwendiger) sind als jede Gebrauchsanweisung.
Ilija Trojanow, geb. 1965 in Sofia, wuchs in Kenia auf und lebt heute in Wien. Werke (Auswahl): Der Weltensammler (2006), Der entfesselte Globus. Reportagen (2008), Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte (gem. m. Juli Zeh, 2009), EisTau (2011; alle bei Hanser).
02.11.2012
© Ilija Trojanow / wespennest
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