Ilija Trojanow Fluchtgrund und Fluchthilfe. Wenn wirre Stimmen die Analyse verstellen
Angesichts medialer Bilder von Flüchtlingsströmen nach und in Europa schlagen gegenwärtig Reaktionen hoch. Die Probleme sind seit langem bekannt, werden aber falsch behandelt. Genaue Weltkenntnis fordert Ilija Trojanow ein.
Wer selber mal Flüchtling war, der muss unweigerlich ein Spezialist für „Flucht“ sein. Deswegen werde ich seit Wochen und Monaten bei jedem Interview und jeder Moderation auf dieses Thema angesprochen. Es brennt allen Bürgern und Bürgerinnen so sehr unter den Nägeln, dass ich immer wieder eindringlich gefragt werde: „Was denken Sie angesichts dieser Bilder?“ Oder alternativ: „Was fühlen Sie angesichts dieser Massen?“ Wäre man nicht so schrecklich gut erzogen, infiziert vom Virus des guten bürgerlichen Benehmens, müsste man die Fragenden entweder abwatschen oder grob darauf hinweisen, dass es dem Intellekt eigen ist, sich mit Phänomenen auseinandersetzen zu können, bevor die eigenen Sinne sie unmittelbar wahrnehmen. Es ist geradezu verwerflich, Migration erst dann zu problematisieren, wenn sie über den eigenen Gartenzaun schwappt. Stattdessen versuche ich mich an einer halbwegs sinnvollen Antwort, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn das, was zu sagen wäre, mit lauter Stimme, was not täte, wäre ein Hinweis auf die komplexen Zusammenhänge und inneren Widersprüche unseres globalen Systems, die sich seit Jahren und Jahrzehnten zuspitzen. Man müsste einer genauen Weltkenntnis das Wort reden, man müsste das Fähnchen der hintergründigen Erkenntnis hochhalten, so wie sie weiterhin von seriösen Publikationen wie manch einem Kulturmagazin (etwa unserem) betrieben wird.
Denn die Berichte über das Voranschreiten der Wüste in der gesamten Sahelzone, über Landgrabbing in vielen Regionen Afrikas, über Waffenlieferungen großen Stils seitens der Rüstungskonzerne in führenden Ländern der NATO hätten uns schon früh auf die kommenden Fluchtbewegungen hinweisen müssen. Fast die gesamte Region von der Westsahara bis zum Horn von Afrika ist ein einziges Bürgerkriegsgebiet. Übrigens haben selbst die Konflikte in Syrien einen ökologischen Hintergrund – das Land hat eine schreckliche, fünfjährige Dürre durchlebt. Wir sollten also darüber reden, was wir gegen den Klimawandel tun müssen, TUN im Sinne von HANDELN anstatt das dümmliche Mantra zu wiederholen: „Wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen.“ Das analytische Betrachten der Welt ist eine Art Frühwarnsystem.
Stattdessen tun Politiker und Kommentatoren so, als seien sie überrascht worden von dem Ansturm der Menschen, die sich vor Klimawandel, Gewalt und sozialer Marginalisierung zu retten versuchen. Und weil wir derart überrumpelt worden sind (was implizit natürlich die Schuld der Flüchtlinge ist), müssen wir diesen unkontrollierten, unregulierten Strom irgendwie in Griff kriegen, ohne „unsere“ Menschenrechte völlig aufzugeben (obwohl manche, etwa der brandstiftende Kasperl von Spiegel Online namens Jan Fleischhauer oder einige der führenden CSU- oder FPÖ-Politiker schon Vorschläge in diese Richtung unterbreiten). Also sollen wenigstens die Schlepper militärisch bekämpft werden (das sind angeblich die größten Verbrecher), damit die Flüchtlinge möglichst keine Chance haben, zu uns zu gelangen, damit sie also zu ihrem eigenen Wohl und Gedeih in ihren Heimatländern bleiben und dort verhungern oder verdursten oder erschossen werden. Wie kann es sein, dass kaum jemand darauf hinweist, wie absurd ein Asylrecht bei gleichzeitiger Abschottung ist?
Besonders verblüffend ist in diesem Zusammenhang das Attribut „geldgierig“, das benutzt wird, um die Schlepper zu dämonisieren. Als übrigens meine Eltern mit mir geflohen sind, hier kommt ausnahmsweise die eigene Lebenserfahrung zum Tragen, hießen die beiden Studenten, die uns den Weg über den Eisernen Vorhang gezeigt haben (gegen Geld!), „Fluchthelfer“ und galten, nicht nur in unserer Familie, als Helden. Ist nicht die Geldgier laut neoliberaler Theorie die gesegnete Kraft, die zu gesunder Konkurrenz führt, die wiederum Wohlstand schafft, weil jeder gegen jeden um den besten Platz und das prallste Konto kämpft? Verzeihung, ihr öffentlichen Heuchler, aber ein Geschäftsmann, der in Landgrabbing investiert, oder ein Shell-Manager, der in der Arktis drillen lässt, ist genauso ein Verbrecher wie die Schlepper, die gegenwärtig das Böse schlechthin darstellen. Sie alle akzeptieren für ein wenig Profit das Leiden oder gar Sterben von Menschen und die schweren Schäden an der Gesellschaft. Was ist der moralische Unterschied zwischen dem Inhaber einer Textilfabrik, der den Tod seiner Arbeiterinnen in Kauf nimmt, und einem Schlepper, der den Tod der Flüchtlinge in Kauf nimmt?
Wir erleben dieser Tage, wie wirr der moralische Kompass ausschlägt, wenn man absehbare Probleme aus ideologischen oder egoistischen Gründen nicht an der Wurzel behandelt. In diesem Wirrwarr haben leider die allerwirrsten Stimmen die besten Chancen gehört zu werden.
Ilija Trojanow, geb. 1965 in Sofia, wuchs in Kenia auf und lebt heute in Wien. Werke (Auswahl): Der Weltensammler (2006), Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte (gem. mit Juli Zeh; 2009), EisTau (2011), Wo Orpheus begraben liegt (mit Fotografien von Christian Muhrbeck; 2013; alle bei Hanser), Der überflüssige Mensch (Residenz 2013) sowie zuletzt der Roman Macht und Widerstand (S. Fischer 2015).
© 24.09.2015
Ilija Trojanow / wespennest
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