Erich Klein Opfer am gehobenen Stammtisch. Ein Nachtrag anlässlich des 70. Jahrestages des Beginns der Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht
Gleichsetzen, aufrechnen, relativieren – der Umgang mit der Opferstatistik des 20. Jahrhunderts schafft es verlässlich in die Schlagzeilen. Zuletzt etwa in Form einer unrichtigen Zahl, geäußert von Günter Grass im Gespräch mit Tom Segev anlässlich seines auf Hebräisch erschienenen Werks Beim Häuten der Zwiebel. Erich Klein nimmt das zum Anlass, einmal mehr darauf hinzuweisen, dass ideologische Empörung ein ungeeignetes Werkzeug zur Kontextualisierung des Holocaust ist und empfiehlt, unsere Kenntnisse der russischen Geschichte zu vertiefen.
„Aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen“, erklärt der Nobelpreisträger Günter Grass im Interview mit dem israelischen Historiker Tom Segev. Eine Sommerlochmeldung? Das Problem liegt nicht in Grass’ unsinnigem Vergleich von sechs Millionen durch die Nazis ermordeten europäischen Juden mit ominösen sechs Millionen deutschen Kriegsgefangenen, die in sowjetischer Gefangenschaft ums Leben kamen, sondern in der unterkomplexen Sichtweise darauf, was Jürgen Habermas seinerzeit als „komplexen Vernichtungszusammenhang“ bezeichnet hat. Der Terminus bezog sich tatsächlich auf die sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, ließe sich aber – mehr als zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, nach Ende von Kommunismus und Kaltem Krieg sowie der Öffnung zahlreicher osteuropäischer Archive – auf alle Opfer und Opfergruppen erweitern und anwenden.
Das Phänomen – fachwissenschaftlich mehrfach als „Historisierung“ des Holocaust diskutiert – fand nur auf verquere Weise, nämlich in Gestalt des seinerzeitigen „Historikerstreits“, seinen Weg in eine breitere Öffentlichkeit. Mitunter scheint es, als wäre die Geschichte zwar durch die Wirklichkeit überholt worden, aber nur, um sogleich als Phantom wiederzukehren, gegen dessen literarische Überhöhung der Historiker Raul Hilberg schon vor Jahrzehnten einwandte: „Es gibt schon zu viele Gräber in den Lüften …“ Wurde eigentlich dazugelernt?
Mittlerweile wäre es an der Zeit, den Holocaust nicht nur europäisch, sondern auch weltgeschichtlich zu kontextualisieren. Voraussetzung dafür wäre eine Haltung, die man als „Selbstabständigkeit“ bezeichnen könnte: Distanz, die sich von aller pseudomoralischen und historiosophischen Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges mit den Mitteln des gehobenen Stammtisches verabschiedet: „Wir sechs Millionen Juden – ihr sechs Millionen Deutsche Kriegsgefangene.“ Und was die Russen betrifft – waren am Anfang und am Ende die Sowjets, die es nicht mehr gibt, an allem selbst schuld? Nicht nur der universale Biertisch ist zu beenden, auch jene Ekel erregenden Rechenspiele sollten durch tatsächliche Zahlen ersetzt werden: In einem Gedenkjahr wie 2011, in dem die 70. Wiederkehr des deutschen Überfalles auf die Sowjetunion kurzfristig durch die Medien stolperte, wäre es möglich und angebracht gewesen, geschehen ist es nicht. Allein Ausnahmen bestätigen die Regel.
Dass etwa die 900 Tage dauernde Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht zwischen 1941 und 1944 zu den großen Barbareien des Zweiten Weltkriegs gehört, hat sich in unseren Breiten noch nicht herumgesprochen. Ungefähr eine Million Menschen kam ums Leben. Bezeichnend ist auch, dass zwei der wichtigsten Blockade-Bücher von englisch-, und nicht deutschsprachigen Autoren stammen. Harrison Salisburys in den 1970er-Jahren erschienenes Buch 900 Tage konnte seinerzeit als Ausdruck des Kalten Krieges abgetan werden; mit Anna Reids Blokada. Die Belagerung von Leningrad geht das aufgrund des übersichtlich aufgearbeiteten Akten- und Zeitzeugenmaterials nicht so leicht. Die britische Historikerin formuliert die verzwickte Ausgangslage in ihrem Buch so: Deutsches (und österreichisches) Schuldbewusstsein bezüglich der Blockade „weicht hinter dem Holocaust zurück“. Dem nicht genug zieht sie riskante Vergleiche: In Leningrad kamen viermal mehr Menschen ums Leben als in Hiroshima und Nagasaki; Madrid und Sarajevo wurden zwar viel länger belagert, beklagten aber ein Zehntel der Opfer. Die Empörung über derartige Vergleiche ist blauäugig: Die grundlegenden deutschen Daten und Fakten zu Leningrad sind ohnedies längst bekannt. Etwa die „Geheime Weisung Nr 1a 1601/41“ vom 23. September 1941: „Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.“
Also Zahlen – jenseits des ideologischen Marschgepäcks wie „Drang nach Osten“, „Slawen sind Sklaven“, „jüdisch-bolschewistische Kommissare sind zu erschießen“. Nach kaum drei Monaten schloss sich der Belagerungsring am 8. September 1941 um Russlands zweite Hauptstadt Leningrad. Während sich die Leningrader mit der militärischen Seite der Blockade scheinbar abfanden, nahm die eigentliche Tragödie der Stadt, der Hunger, rasant dramatische Ausmaße an. Laut Regierungskommission reichten die Vorräte an Getreide und Mehl bei Kriegsbeginn gerade für 35 Tage. Im Dezember 1941 starben 40 000 Menschen den Hungertod; im Januar 1942 fast 100 000; ebenso viele im Februar. Für die nächsten Monate „pendelte“ sich die Zahl bei 20 000 bis 30 000 ein. Eine “Kommission zur Untersuchung von Gräueltaten der faschistischen Besatzer“ ermittelte zu Kriegsende 649 000 Opfer unter der Zivilbevölkerung – manche Historiker halten heute aus guten Gründen eine doppelt so hohe Zahl für realistisch.
Unter den „Blokadniki“, den Überlebenden, herrschte nach dem Krieg, und ganz besonders ab den Zeiten der Perestroika, Uneinigkeit in der Bewertung der politischen und militärischen Verteidigung der Stadt: Daniil Granin etwa, Autor der umfassendsten oral history-Dokumentation der Blockade kam zum Schluss, es wäre besser gewesen, die Stadt aufzugeben, um so die Zahl der zivilen Opfer geringer zu halten. Anna Reid vertritt die gegenteilige Position: Leningrad wäre komplett ausgehungert, alle Juden sofort ermordet und die Stadt zerstört worden. Eine ausgewogene, „liberale“ Ansicht vertritt der Leningrader Kulturhistoriker Dmitri Lichatschow, selbst ein Blokadnik: „Wir wurden zweifach belagert – von außen und von innen.“
Keine dieser Positionen aber erlaubt jenen Umgang, den Günter Grass mit der kritisch-selbstkritischen Aufarbeitung der russischen Geschichte pflegt: Der Holocaust war tatsächlich nicht das einzige Verbrechen der Deutschen!
Erich Klein, geb. 1961 in Altenburg/Niederösterreich, freier Publizist und Übersetzer, lebt in Wien. Publikationen u.a.: Denkwürdiges Wien (Falter Verlag 2004) und als Herausgeber gemeinsam mit Christian Reder: Graue Donau, Schwarzes Meer. Wien/New York: Springer 2008 (= Edition Transfer). Als Übersetzer aus dem Russischen zuletzt: Boris Chersonskij, Familienarchiv (Wieser 2010).
28.09.2011
© Erich Klein / wespennest
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