Lukas Meschik Die Kunst der Weltklugheit
Die Welt ist eine andere geworden – und dreht sich doch weiter. Während Russland den Krieg gegen die Ukraine unentwegt anfacht und viele Menschen auf der Suche nach einem sicheren Ort ihre Städte und Dörfer verlassen, gehen wir hier unbeirrt unserem Alltag nach. Ist das zulässig? Und kann die Beschäftigung mit Literatur etwas zum Verständnis der Situation beitragen? Lukas Meschik ringt mit einem bekannten Diktum Thomas Bernhards.
„Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ Dieser berühmte Satz von Thomas Bernhard kommt einem in den Sinn, wenn man versucht, weiter seinen Alltag zu bestreiten, während man mit bangem Blick die diversen Live-Ticker verfolgt. Es ist alles lächerlich, wenn man an den Krieg denkt.
Eigentlich sollte es hier um etwas ganz anderes gehen. Ich wollte davon erzählen, wie mir vor wenigen Wochen durch Zufall ein Buch in den Schoß fiel, nämlich Handorakel und Kunst der Weltklugheit von Baltasar Gracián. Das spanische Original erschien 1647, die beinahe 190 Jahre lang verbindliche und weitverbreitete deutschsprachige Übertragung entstand 1832 und stammt von Arthur Schopenhauer, der „treu und sorgfältig“ zu Werke ging, wie er in der Vorbemerkung selbst sagt; erst Ende 2020 legte Hans Ulrich Gumbrecht eine von ihm kommentierte und vielfach gelobte Neuübersetzung vor – auf die ich allerdings nicht näher eingehen kann.
Das Handorakel umfasst dreihundert kurze Lebensregeln, die hochverdichtet, allgemeingültig und dadurch oft abstrakt sind. Nie geht es darum, andere zu übervorteilen und kompromisslos die eigenen Interessen durchzusetzen – und nur selten erhalten wir lediglich Empfehlungen, wie man sich selbst ins rechte Licht rücken kann. Die so kompakten Aphorismen sind eher Leitplanken, die einen dazu inspirieren, auf der großen Suche nach sich selbst ungefähr die Richtung zu behalten.
Eigentlich wollte ich ganz beflissen über alte Bücher und zeitlose Lesefreude schreiben. Jetzt, im Angesicht einer kriegerischen Auseinandersetzung in Europa, erscheint das allerdings sehr unpassend, beinahe pietätlos. Wir haben im Moment ja ganz andere Sorgen. Die Kampfhandlungen und Raketeneinschläge erlebe ich als unablässigen Nachrichtenstrom, aus dem die Meldungen und Bilder auf mich einprasseln. Satt und bequem sitze ich vor dem Computerbildschirm, unterwegs von einem warmen Innenraum in den anderen versorgt mich das Smartphone mit Updates. Was in der Welt geschieht, darf uns nicht egal sein; jedes Leid, das uns nicht unmittelbar betrifft, geht uns trotzdem etwas an. Bernhards Satz wird immer wahrer, je öfter ich ihn lese. Es ist tatsächlich alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, gerade all die Probleme und Problemchen, die wir seufzend vor uns hertragen. Natürlich kann niemand ständig an den Tod denken – das wäre ein unerträglicher Zustand –, es gibt aber Zeiten, wo man genau das tut, wo man durch Solidarität mit Gefährdeten und Opfern in Wort und Tat die eigene Lächerlichkeit vorübergehend aufhebt.
Graciáns Handorakel liegt vor mir, und ich blättere darin – jetzt schon mit weniger schlechtem Gewissen. Abschnitt 121 trägt die Überschrift: „Nicht eine Angelegenheit aus dem machen, was keine ist“. Darin heißt es unter anderem: „Es ist sehr verkehrt, wenn man sich das zu Herzen nimmt, was man in den Wind schlagen sollte. Viele Sachen, die wirklich etwas waren, wurden zu nichts, weil man sie ruhen ließ: und aus andern, die eigentlich nichts waren, wurde viel, weil man sich ihrer annahm.“ Plötzlich kommt mir diese Bündelung von Weisheiten gar nicht mehr so abstrakt und weltfremd vor, sondern doch sehr lebensnah und eben weltklug. Die Beschäftigung mit schöngeistigen Dingen muss keine Gegenbewegung, keine Flucht vor den nervösen Feeds der Nachrichtenportale sein, sondern kann dringend benötigte Denkräume eröffnen. Nicht zuletzt gibt sie Halt in einer als unübersichtlich und fragil erscheinenden Lebenswirklichkeit.
Nicht eine Angelegenheit aus dem zu machen, was keine ist – bedeutet im Umkehrschluss, eben sehr wohl eine Angelegenheit aus dem zu machen, was eine ist. Viele Sachen (wahrscheinlich die meisten) sollte man ruhen lassen, und sie bleiben, was sie eigentlich immer schon waren: nichts. Und dann gibt es Sachen, die eben wirklich viel sind, die man auf keinen Fall ruhen lassen darf, sondern sich dringend zu Herzen nehmen sollte. Was Gracián durch seine Gedankenkunst vehement einfordert, ist die Fähigkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Einfach ausgedrückt: Man muss Prioritäten setzen. Pick your battles. Ich scrolle durch die letzten Meldungen im Live-Ticker und versuche mich auf das zu besinnen, was wirklich wichtig ist, führe mir die unverhandelbaren Werte vor Augen, zu denen sich jeder unmissverständlich bekennen muss, wenn er für sich in Anspruch nimmt, Menschenwürde und Schutz von Leben als oberste Prinzipien anzuerkennen.
Das Handorakel ist bald vierhundert Jahre alt, und legt man es als Regelwerk über die laufenden Ereignisse, wirkt es gegenwärtiger als so mancher atemlose Blog – sinnstiftende Philosophie oder Kunst spielt immer jetzt. Es sind Bücher wie dieses, die uns dabei helfen, hin und wieder vom Tagesgeschehen Abstand zu gewinnen und die erschütternden Vorgänge aus der Vogelperspektive zu betrachten – nicht nur, sondern auch –, um nicht den Verstand zu verlieren. Und es sind klare Wortmeldungen und konkrete Hilfestellungen, die für die Menschen, denen es schlechter geht als uns, einen Unterschied machen. Wenn es einen Kampf gibt, der geführt werden muss, dann der gegen den Krieg und für den Frieden. Das ist nicht lächerlich, denke ich, sondern die Voraussetzung für alles Philosophieren über Weltklugheit.
Lukas Meschik, geb. 1988 in Wien, Schriftsteller und Musiker, seit 2019 Mitarbeit bei wespennest. Er veröffentlicht Romane und Gedichte, mit einem Ausschnitt aus seinem autobiografischen Vaterbuch war er 2019 für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert. 2021 erschien sein Essay Einladung zur Anstrengung. Wie wir miteinander sprechen im Innsbrucker Limbus Verlag.
09.03.2022
© Lukas Meschik / Wespennest
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