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Wespennest Nr.187
Wespennest Nr.187

Verkehr

Über ein Jahrhundert ist es her, dass der Futurismus nicht nur die Syntax außer Kraft setzen und die Worte befreien wollte. Die Menschheit selbst sollte aus ihrer "gedankenschweren Unbeweglichkeit" gerissen werden: Vibrierende Glut in den Werften, abenteuersuchende Dampfer, auf Schienen einherstampfende Stahlrosse. Dynamisierung, so weit das Auge reichte. "Wir erklären", schreibt Filippo Tommaso Marinetti, "daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit – ein aufheulendes Auto … ist schöner als die Nike von Samothrake."

Den Manifesten des 21. Jahrhunderts ist solche Herrlichkeit in der Regel fremd: "FUCK PLANES, FUCK CARS" hat jemand ans Betonufer des Wiener Donaukanals gesprayt und damit an der Beweglichkeit von Flugzeug und Auto wohl nicht den ästhetischen Aspekt verflucht. Wird hier der Verzicht auf individuelle Mobilität gefordert? Prä- und postfossilen Verkehrsmitteln das Wort geredet? Auf Promenadologie und Entschleunigung gesetzt?

"Verkehr" lautet das Thema des wespennest-Herbstschwerpunkts. Es geht darin um prägende Verkehrserlebnisse, um eine gerechte Teilhabe an Mobilität, um das Lastenrad als Distinktionsobjekt und nicht zuletzt um Fragen von Sprachverkehr und Verkehrssprache – wie wir miteinander verkehren, lässt dann vielleicht doch wieder Platz für eine neue Schönheit.

Außerhalb des Schwerpunkts schreibt John Palattella essayistisch gegen apokalyptisches Denken an und stützt sich dabei auf Texte und Gedichtzeilen von Elisabeth Bishop, Robert MacFarlane und Wallace Stevens. Elisabeth Edl würdigt die vergessene Übersetzerin Erna Redtenbacher und zeichnet ihren Weg von Wien in die Emigration nach. Neben dem Buchkritik-Teil sind wie immer auch neue Prosa und Gedichte zu entdecken, darunter drei Arbeiten des im Juni 2024 verstorbenen Dresdner Autors Uwe Hübner.

Wespennest Aktuelles
Prozentzahlen können richtig und irreführend zugleich sein. Was eine Statistik aussagt, ist oft Anlass für ideologische Debatten. Was sie hingegen nicht aussagt, sollte außer Streit stehen. In Bezug auf die deutsche polizeiliche Kriminalstatistik etwa die Tatsache, dass diese grundsätzlich nur strafrechtlich relevante Sachverhalte aufführt, die der Polizei bekannt wurden. Juristisch sind diese damit noch nicht bewertet. Und: Staatsschutz- und Verkehrsdelikte sind darin ebenso wenig erfasst wie Finanz- und Steuerdelikte oder Straftaten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen wurden. Aufmerksame Leser:innen der Süddeutschen Zeitung haben in Bezug auf deren Berichterstattung zur kürzlich öffentlich gemachten aktuellen deutschen Kriminalstatistik die Journalist:innen ihres Blattes eindrücklich ermahnt, mehr relativierende Vorsicht bei der Interpretation von Prozentzahlen walten zu lassen. Von „verzerrungsfreier“ Auslegung weit entfernt ist – insbesondere in Vorwahlzeiten – aber auch so manche (partei)politisch motivierte Forderung nach mehr statistischer Differenzierung. Jan Koneffke ließ sich davon satirisch inspirieren und findet: Da geht noch mehr!

AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel stimmte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl am 19. September in Wien in dessen Ruf nach der „Allianz der patriotischen Kräfte“ ein. Die Erläuterung, wie eine solche Allianz bei der Europawahl im Juni 2024 die offenkundigen Widersprüche in der ultrarechten Auslegung des „Europas der Vaterländer“, einst Schlagwort Charles de Gaulles, überwinden wolle, blieben beide schuldig. Dass es allerdings zum Schaden der Rechten sei, wenn auch die alte Linke dem Nationalismus ein Lied singt, ist ein Fehlschluss, wie Jan Koneffke in einem Rückblick auf die Dogmen eines umtriebigen Bekannten seiner Jugendjahre festhält.

Der literaturhistorische Blick zurück mag der in einen Zerrspiegel sein. Und doch macht er gesellschaftliche Verhaltensweisen im Krisenfall sichtbar, dessen Symptome auf einen Nenner gebracht werden können: kapitalistische Produktion – brennen, bis nichts mehr bleibt. Ein Gegenentwurf, findet Florian Baranyi, müsste auf einen Stoff setzen, der sich nicht vernutzen lässt.

Mit frei verfügbaren Übersetzungsprogrammen lassen sich selbst komplexe Satzkonstruktionen beeindruckend – oder erschreckend – gut übertragen. Thomas Eder konfrontiert eine viel gelobte Software mit einem „Holzwegsatz“ des US-amerikanischen Linguisten Thomas Bever und zeigt gewitzt ihre Grenzen auf. Hat die humane Textproduktion also doch eine Zukunft?

Am 13. April 2022 verstarb die italienische Fotografin Letizia Battaglia, die als Chronistin der sizilianischen Mafia unser Bild von der Cosa Nostra geprägt hat – inszeniert als Szenen eines Stücks mit klar umrissenen Rollen. Florian Baranyi rückt der Theatermetapher in Zeiten von Krieg auf den Leib.

Die Welt ist eine andere geworden – und dreht sich doch weiter. Während Russland den Krieg gegen die Ukraine unentwegt anfacht und viele Menschen auf der Suche nach einem sicheren Ort ihre Städte und Dörfer verlassen, gehen wir hier unbeirrt unserem Alltag nach. Ist das zulässig? Und kann die Beschäftigung mit Literatur etwas zum Verständnis der Situation beitragen? Lukas Meschik ringt mit einem bekannten Diktum Thomas Bernhards.

Wespennest Zeitschrift
Heft 186 |w186| Auf die Ängste der 1980er reagierte man mit dem Slogan „No Future“, heutige Bewegungen tragen „for Future“ im Namen. Was hat sich geändert an der Haltung zur Zukunft?
Heft 185 |w185| Die Kluft zwischen uns und den Tieren wird zunehmend kleiner. Bleibt als Unterschied die singuläre Sprachwahrnehmung und Sprachproduktion des Menschen?
Heft 184 |w184| Wie lange eine Ordnung hält, ist nicht vorhersehbar. Wer von „Zeitenwende“ spricht, steht auch vor der Frage, welche der alten Regeln noch gelten und woraus sich Neues formt.
Wespennest Vorschau
wespennest 188
Komplexität
Preis: EUR 14.00;
erscheint am 06.05.2025

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