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Komplexität
Der Philosoph Odo Marquard sah des Menschen wesentlichste Fähigkeit in dessen "Inkompetenzkompensationskompetenz". Was ein ziemlich kompliziertes Wort ist für die einfache Tatsache, dass wir uns als Erdenbürger*innen notwendigerweise irgendwie durchwursteln müssen.
Der Schwerpunkt des wespennest-Frühjahrshefts befasst sich unter anderem mit der überlebenswichtigen Funktion der Komplexitätsreduktion. Soziale wie kognitive Systeme sind darauf angewiesen, Information zu filtern und zu reduzieren, was, gut durchgeführt, schwere Arbeit ist. Wie klug ist es aber, sie digitalen Maschinen zu überlassen?
Und wie dumm dürfen wir dabei werden? Es ist, gerade was die Welt der Ideen betrifft, rasante Unterkomplexität festzustellen und zunehmende Inkompetenz. Etwa, was Geschmacksbildung (Netflix) oder die Lesefähigkeit angeht. Wie einfach sollen Bilder, Sprache, Nachrichten werden, und was bedeutet erhöhte Geschwindigkeit bei gleichzeitig reduzierter Komplexität fürs Denken? Die Leseforschung, unter anderem, gibt Aufschluss. Komplexität ist überfordernd, schwierig, und sie ist schön. In jedem Fall hat sie etwas mit Ästhetik zu tun. Auch darum kümmert sich dieser Schwerpunkt.
Außerhalb des Themenschwerpunkts stellen Sarah Kuratle, Ranjit Hoskoté, Andreas Lehmann und Hugo Kurt neue Arbeiten vor. Dmitri Strozews „Poetische Reportage“ macht deutlich, was es heißt, wenn Dichtung unter den Bedingungen von unmittelbarer Gewalt und Widerstand entsteht – und erscheint in Zusammenarbeit mit dem belarusischen Almanach „Minsker Schule“. Den Auftakt macht Uta Gosmann mit ihrem poetischen Essay „Zum Leidwesen“, in dem sie u.a. ihren Betrachtungen zu Matthias Grünewalds Isenheimer Altar nachgeht, und der abschließende Buchbesprechungsteil widmet sich diesmal Büchern von Amy Kurzweil, Uljana Wolf, Maximilian Gilleßen und der Werkausgabe Werner Koflers.
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Prozentzahlen können richtig und irreführend zugleich sein. Was eine Statistik aussagt, ist oft Anlass für ideologische Debatten. Was sie hingegen nicht aussagt, sollte außer Streit stehen. In Bezug auf die deutsche polizeiliche Kriminalstatistik etwa die Tatsache, dass diese grundsätzlich nur strafrechtlich relevante Sachverhalte aufführt, die der Polizei bekannt wurden. Juristisch sind diese damit noch nicht bewertet. Und: Staatsschutz- und Verkehrsdelikte sind darin ebenso wenig erfasst wie Finanz- und Steuerdelikte oder Straftaten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen wurden. Aufmerksame Leser:innen der Süddeutschen Zeitung haben in Bezug auf deren Berichterstattung zur kürzlich öffentlich gemachten aktuellen deutschen Kriminalstatistik die Journalist:innen ihres Blattes eindrücklich ermahnt, mehr relativierende Vorsicht bei der Interpretation von Prozentzahlen walten zu lassen. Von „verzerrungsfreier“ Auslegung weit entfernt ist – insbesondere in Vorwahlzeiten – aber auch so manche (partei)politisch motivierte Forderung nach mehr statistischer Differenzierung. Jan Koneffke ließ sich davon satirisch inspirieren und findet: Da geht noch mehr!
AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel stimmte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl am 19. September in Wien in dessen Ruf nach der „Allianz der patriotischen Kräfte“ ein. Die Erläuterung, wie eine solche Allianz bei der Europawahl im Juni 2024 die offenkundigen Widersprüche in der ultrarechten Auslegung des „Europas der Vaterländer“, einst Schlagwort Charles de Gaulles, überwinden wolle, blieben beide schuldig. Dass es allerdings zum Schaden der Rechten sei, wenn auch die alte Linke dem Nationalismus ein Lied singt, ist ein Fehlschluss, wie Jan Koneffke in einem Rückblick auf die Dogmen eines umtriebigen Bekannten seiner Jugendjahre festhält.
Der literaturhistorische Blick zurück mag der in einen Zerrspiegel sein. Und doch macht er gesellschaftliche Verhaltensweisen im Krisenfall sichtbar, dessen Symptome auf einen Nenner gebracht werden können: kapitalistische Produktion – brennen, bis nichts mehr bleibt. Ein Gegenentwurf, findet Florian Baranyi, müsste auf einen Stoff setzen, der sich nicht vernutzen lässt.
Mit frei verfügbaren Übersetzungsprogrammen lassen sich selbst komplexe Satzkonstruktionen beeindruckend – oder erschreckend – gut übertragen. Thomas Eder konfrontiert eine viel gelobte Software mit einem „Holzwegsatz“ des US-amerikanischen Linguisten Thomas Bever und zeigt gewitzt ihre Grenzen auf. Hat die humane Textproduktion also doch eine Zukunft?
Am 13. April 2022 verstarb die italienische Fotografin Letizia Battaglia, die als Chronistin der sizilianischen Mafia unser Bild von der Cosa Nostra geprägt hat – inszeniert als Szenen eines Stücks mit klar umrissenen Rollen. Florian Baranyi rückt der Theatermetapher in Zeiten von Krieg auf den Leib.
Die Welt ist eine andere geworden – und dreht sich doch weiter. Während Russland den Krieg gegen die Ukraine unentwegt anfacht und viele Menschen auf der Suche nach einem sicheren Ort ihre Städte und Dörfer verlassen, gehen wir hier unbeirrt unserem Alltag nach. Ist das zulässig? Und kann die Beschäftigung mit Literatur etwas zum Verständnis der Situation beitragen? Lukas Meschik ringt mit einem bekannten Diktum Thomas Bernhards.
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|w187| Autos, vom Futurismus verherrlicht, haben ihre Schönheit eingebüßt. Motorisierte Beweglichkeit ist mit "Fossilscham" behaftet. Ein Heft mit utopischen Verkehrsentwürfen.
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|w186| Auf die Ängste der 1980er reagierte man mit dem Slogan „No Future“, heutige Bewegungen tragen „for Future“ im Namen. Was hat sich geändert an der Haltung zur Zukunft?
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|w185| Die Kluft zwischen uns und den Tieren wird zunehmend kleiner. Bleibt als Unterschied die singuläre Sprachwahrnehmung und Sprachproduktion des Menschen?
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wespennest 189 Bankrott
Preis: EUR 14.00; erscheint am 06.11.2025
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