Erich Klein Gedenkfuror 2014: Warum wir lernen sollten, nicht aus der Geschichte zu lernen
Sollte man anstelle von Robert Musils „Sekretariat für Genauigkeit und Seele“ nicht vielmehr ein Kommissariat für Medien und Volksernüchterung zur Bewältigung der Gegenwart einrichten? Angesichts der gegenwärtigen Obsession mit den Gedenkjahren 1914/1918 lässt sich diese Frage mit einigem Nachdruck stellen.
Als der Philosoph Dieter Henrich an der Wende der 1980er-/90er-Jahre unter dem Titel „Tod in Flandern und in Stein“ eine Generalrevision europäischer Gedenkkultur unternahm, war die Welt noch in Ordnung: bipolar und eindeutig. Der Schreck über den beendeten Kalten Krieg wich allmählich aus den Gliedern. Das zu jener Zeit deklarierte „Ende der großen Erzählung“ (in seiner Trivialvariante das „Ende der Geschichte“) bot überdies die Möglichkeit, ideologischen Müll mit nüchtern analytischem Blick zur Seite zu räumen; vage kam eine Hoffnung auf, Geschichte könne künftig wieder freie Fahrt aufnehmen.
Der Gedenkfuror des Jahres 2014 mit hundertjährigem Blick auf 1914/1918 türmt im Gegensatz dazu auf sämtlichen verfügbaren history channels die Trümmer der Vergangenheit auf, sodass selbst einem Engel der Geschichte längst die Luft weg bleibt. Selbstredend gibt sich der Overkill an historischen Filmen und Fotos medienkritisch, auch wenn die dazugehörigen Bildunterschriften die ausgetretenen Pfade kaum verlassen. Allerdings kam schließlich auch noch das gute alte Buch in Gestalt von Christopher Clarks Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog zu Wort. Zum Bestseller emporstilisiert, wie es üblicherweise nur Esoterik, Kochen oder Lebensberatung zuteil wird, mutierte Clarks grundsätzlich ausgewogene Analyse europäischer Verhältnisse vor einhundert Jahren rasch zum Lieblingsgegenstand und Zankapfel von Talkshows. Die akademisch kritische Öffentlichkeit rümpfte ob der runderneuerten Vergangenheitsbewältigung eine Zeit lang die Nase, tat dann aber begeistert mit; das Publikum seinerseits schlug sich bereitwillig auf die Seite der „Normalisierung“ deutscher Geschichte. Dass dabei die sogenannte „Fischer-Kontroverse“ aus dem Jahr 1961 über Fritz Fischers Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918 klammheimlich durch Karl Jaspers „Schuldfrage“ aus 1946 ersetzt wurde, tat weniger zur Sache. Das eine ist so gut wie das andere ein passabler Stichwortgeber für marktbefördernde Maßnahmen am Buchsektor.
Warum, sollte an dieser Stelle gefragt werden, gibt es in deutschen Landen, anders als in Frankreich oder in Großbritannien, keine historischen Romane über den Ersten Weltkrieg mit nennenswerter öffentlicher Resonanz? Liegt es an der Qualität der Autoren? An der Schwammigkeit von Ausdrücken zur Beschreibung der Sachlage wie „Weltbürgerkrieg“, „Geopolitik“ oder „Urkatastrophe des Jahrhunderts“, die vom Feuilleton präferiert werden? Wurde bei aller Aufregung über „deutsche Schuld“ die bei historischer Analyse angebrachte Frage nach Kausalitäten, Richtigkeit oder Fatalität von Entscheidungen der geschichtlichen Akteure präzise genug gestellt? Folgt aus dem Ersten Weltkrieg tatsächlich der Zweite automatisch und notwendigerweise? Warum ist in dieser Diskussion neben Christopher Clark praktisch kein Platz?
Der österreichische Historiker Manfried Rauchensteiner, selbst Verfasser umfangreicher Studien über den Ersten Weltkrieg und das Ende des Habsburgerreiches, wies mehrfach darauf hin, dass er sich an keinen auch nur annähernd vergleichbaren Medienrummel in Sachen Gedenken erinnern könne, wie er derzeit dem Ersten Weltkrieg zuteil würde. Der Erste Weltkrieg ist in, der Zweite Weltkrieg out. Und: Man müsse wohl noch den Herbst abwarten und das Jahr 2015, in dem – 100 Jahre zuvor – der österreichisch-italienische Krieg begann. Die Vermutung, dass danach tatsächlich nichts mehr in Sachen Vergangenheit folgt, legt sich nahe angesichts der geringen Bereitschaft der europäischen Eliten und der politischen Klassen, dieses Gedenkjahr zur Überprüfung brauchbarer europäischer Bestände zu nutzen. Nicht einmal die Historiker der Nachfolgestaaten des einstigen Habsburgerimperiums waren bereit, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen. Dass mitten ins Gedenkjahr überdies die Kunde vom Krieg zwischen Russland und der Ukraine platzte, machte alle historische Betrachtung ohnehin fast gegenstandslos! Gerade noch ging in Deutschland das Wort von der „Freiheit, die am Hindukusch verteidigt wird“ um – auf die russische Besetzung der Krim und die ostukrainische Separatistenumtriebigkeit mit Namen „Neurussland“ folgte verwirrtes Schweigen. Europa – nicht mehr als ein ratloses Kopfschütteln und Händeringen? Gibt es kompetente Stellen, bei denen noch nachgefragt werden kann? Vermutlich ist der Erfolg des australischen Historikers Christopher Clark ebenso wenig ein Zufall, wie der Umstand, dass es ein in den USA lehrender Historiker wie Timothy Snyder war, der sich als einer von wenigen imstande zeigte, seine geschichtliche Analyse der sogenannten „Bloodlands“ Zwischeneuropas in Realzeit in Zeitdiagnostik zu verwandeln. Immerhin!
Würde heute jemand noch den von Robert Musil mehrfach in seinen Tagebüchern vorgetragenen Hinweis verstehen, man werde es einst noch zu schätzen wissen, warum er, Musil, sich in seinem Mann ohne Eigenschaften weiterhin mit dem Jahr 1913 befasse, obwohl die Untaten der Nazibarbarei längst zur unübersehbaren Realität geworden waren? Sollte anstelle von Musils „Sekretariat für Genauigkeit und Seele“ mittlerweile nicht vielmehr ein Kommissariat für Medien und Volksernüchterung zur Bewältigung der Gegenwart eingerichtet werden? Erster Programmpunkt: Abschaffung aller Gedenkjahre! Learning not to learn from history! Oder geht es doch nur um den Erinnerungsherbst des Jahres 2014? Nur – wer versteht noch Zeilen wie jene des siebenundzwanzigjährigen Georg Trakl, der angesichts der Schrecken des galizischen Krieges und wenige Tage, bevor er im November 1914 seinem Leben ein Ende setzte, in seinem letzten Gedicht „Grodek“ notierte: „O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre / Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltger Schmerz, / Die ungebornen Enkel.“ Die Zeitschleife in die Zukunft mutet retrospektiv verwirrend an und schon die Frage nach den künftigen Ästhetiken der italienischen und russischen Futuristen, der französischen Surrealisten und englischen „lost poets“ des Ersten Weltkrieges eröffnet einen derart weiten Horizont, dass Europa noch gar nicht in den Blick gerät.
Erich Klein, geb. 1961 in Altenburg (Niederösterreich), freier Publizist, Übersetzer und Kurator; Redaktionsmitglied von Wespennest. Übersetzungen aus dem Russischen, zuletzt der Roman Sankya von Zakhar Prilepin (gemeinsam mit Susanne Macht, 2012)
© 31.10.2014
Erich Klein / wespennest
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