Jan Koneffke Ludger Bült (1957–2021). Eine persönliche Erinnerung
Sieben Jahre und neunundzwanzig Hefte lang, von 1997 bis 2004, gehörte der deutsche Programmgestalter, Hörfunkautor und Bibliothekar Ludger Bült dem Kreis ständiger redaktioneller Mitarbeiter der Zeitschrift wespennest an, einem losen Zusammenschluss von Personen, die mit ihren Ideen, ihrer Urteilskraft und ihrem Bestreben, wespennest für neue Autorinnen und Autoren zu öffnen, wesentlich zum Gelingen dieser Zeitschrift beitragen. Im Februar dieses Jahres ist Ludger Bült 63-jährig gestorben. Jan Koneffke, wespennest-Redakteur seit 2004, erinnert sich an prägende gemeinsame Erfahrungen und Stationen.
Ludger Bült war sieben Jahre lang ständiger redaktioneller Mitarbeiter unserer Zeitschrift, zu der er, noch als Programmleiter des Literaturforums im Berliner Brecht-Haus, namentlich zum damaligen Herausgeber Walter Famler, Kontakt aufgenommen hatte. Ludger, dem der „hohe Ton“ zuwider war, sei es in der Dichtung, sei es im Gespräch über sie, schätzte das Wespennest insbesondere für seinen Anspruch mit „brauchbaren Texten und Bildern“ an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen teilzunehmen. Denkbar, dass ihn die Zeitschrift Ende der 1990er-Jahre umso stärker anzog, als er den Eindruck haben musste, mit seinem Literaturprogramm, das einer vergleichbaren Vorstellung folgte, am Brecht-Haus gescheitert zu sein.
Wenige Monate später – ich erinnere mich gut – bat er mich telefonisch um einen Beitrag für ein Heft zum dreißigjährigen Bestehen des Wespennests. Die Einladung, der ich gerne nachkam, hatte Folgen. Meine Teilnahme an einer dreitägigen Veranstaltung in Wien im Juni 1999, bei der die Jubiläumsausgabe vorgestellt wurde, sollte mich in Zukunft dauerhaft mit der Zeitschrift verbinden. Auch das war Ludger, ein Mensch, der intellektuelle Beziehungen und Freundschaften stiftete.
Doch im Laufe der Festivitäten, gleich am Eröffnungsabend, kam es an unserem Stehtisch zu einem scharfen Schlagabtausch zwischen ihm und dem von Ludger eigentlich hochverehrten Lothar Baier, der die NATO-Angriffe auf das Serbien unter Slobodan Milošević verurteilte, während Ludger sie für unabdingbar hielt, um die ethnischen Säuberungen zu unterbinden. Für mich war das einer der traurigsten Momente in diesem letzten Jahr des von Mauerfall und linken Desillusionierungen geprägten Jahrzehnts, umso mehr, als sich beide bei ihrer Argumentation auf die Geschichte deutscher Verbrechen beriefen – und zu Recht berufen konnten.
Dass Auschwitz nie wieder möglich sei, war der politische Imperativ, der beide leitete. Spätestens ab 1980/81, als der Dreiundzwanzigjährige seinen Zivildienst als Mitarbeiter der Aktion Sühnezeichen in Majdanek, Auschwitz und Dachau leistete, dürfte dieser Imperativ für ihn wegweisend gewesen sein. Wer Ludger kannte, hat keine Mühe, sich sein Engagement an der Seite der damaligen Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, vorzustellen. Mit demselben Enthusiasmus stand er der von ihm angeregten Alfred-Döblin-Patientenbibliothek am Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg vor, plante er ab 1993 das literarische Programm im Brecht-Haus.
Ludger war ideenreich, wortgewandt und durchsetzungsfähig, ein Mensch voller Energie, Qualitäten, die er wohl teils verstärkt, teils erst erworben hatte, als er sich aus den „kleinen“ Verhältnissen seiner Herkunft herauskämpfte. Erzählt hat er mir von den Jahren in Nordhorn als drittes Kind einer katholischen, sieben Kinder zählenden Arbeiterfamilie eigentlich nie, lieber sprach er von den Erfolgen der Zeit danach. Er, der nur den Hauptschulabschluss hatte machen können, holte nach einer ersten Ausbildung zum Industriekaufmann alles nach: das Abitur und das Studium der Germanistik und Geschichte an der FU Berlin. Und er verschlang die Literatur als Lebensmittel.
Kennengelernt hatte ich Ludger über die Dichterin Lioba Happel. Bald trafen wir uns auf seine Initiative hin unregelmäßig zu fünft, Lioba, der spätere Autor populärwissenschaftlicher Werke Markus Hattstein, Thomas Hettche, Ludger und ich, um die neuesten Thesen eines Botho Strauß über den angeblich „deutschen Selbsthass“ zu analysieren. Oder die neuesten Pirouetten Hans Magnus Enzensbergers, der gegen den ethischen Universalismus zu Felde zog.
Weil „die Wörter … in Ost und West unterschiedlich besetzt sind … müssen (sie) erklärt werden, und schon ist man mitten im Erzählen“, hatte Ludger der Berliner taz sein Programm der „Selbstverständigung“ am Brecht-Haus erläutert. Um diese unterschiedlichen Besetzungen der Begriffe ging es nicht zuletzt bei der Veranstaltungsreihe, die Markus Hattstein und ich auf sein Betreiben hin zu dem im Osten gerade als Tabuautor entdeckten Ernst Jünger veranstalteten, oder bei der Gesprächsreihe unter dem Motto „Von den Nachgeborenen … Junge deutsche Literatur im Gespräch“, mit der er Kerstin Hensel betraute, die 26 ost- und westdeutsche Autoren jeweils paarweise miteinander ins Gespräch brachte.
Persönlich erlitt Ludger mit diesem Programm der Selbstverständigung zwischen Ost und West am Brecht-Haus eine Niederlage. 1998 schied er aus. Vier Jahre lang, bis 2002, belieferte er nun als Freier den MDR mit einstündigen Gesprächssendungen. Die meisten seiner Interviewpartner bewunderte er, etwa den Arzt, Widerständler und Autor Hans Keilson oder den Chemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff. Sie zu befragen, war ihm unmittelbares intellektuelles und menschliches Bedürfnis, das merkte man den Sendungen im besten Sinne an.
Doch mit der Geburt des zweiten Sohnes schien es ratsam, das Leben der fünfköpfigen Familie auf finanziell sichere Füße zu stellen. Ludger besann sich seiner dritten Ausbildung als Bibliothekar und leitete die Stadtbibliothek in Lindau am Bodensee. Es begann ein Rückzug auf Raten, auch wenn er es selbst wohl anders sah, der ihn zuletzt nach Wyk auf die Insel Föhr führte. Seine Verbindungen in den Kulturbetrieb brachen ab. Auch wir sahen uns nur noch selten. 2004 etwa, dem Jahr, in dem sich Lothar Baier das Leben nahm. Bei unserer letzten Begegnung wiederum, 2018 in Wien, erinnerte ich Ludger an besagten Streit – den er vergessen, ich denke, verdrängt hatte.
Nicht in Charakter und Wirken, aber mehr als nur in seinen politisch-moralischen Ansprüchen, nämlich vor allem auch in seinen Enttäuschungen, stand er Lothar Baier näher, als ihm bewusst war. Im Lebensalter überlebte Ludger ihn nur um ein Jahr, als er im Februar überraschend verstarb.
Jan Koneffke, geb. 1960 in Darmstadt. Wespennest-Redaktionsmitglied seit 2004. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin, lebte in Rom und pendelt heute zwischen Wien und Bukarest. Letzte Veröffentlichungen: Ein Sonntagskind. Roman (2015), Als sei es dein. Gedichte (2018), Die Tsantsa-Memoiren (2020).
07.04.2021
© Jan Koneffke / Wespennest
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