Jan Koneffke Der Heimat-Sprech
Heimat, Söhne, große. Jan Koneffke reist zu einer Lesung in universitärem Rahmen – auf der Tagesordnung steht ein Dichter der Romantik und dessen Begriff von Heimat – und bekommt angesichts der Wiederkehr gefühlig-neudeutscher Wurzelverbundenheit Ohrensausen. Mit der Renaissance der Heimat geht die Abwehr des Unvertrauten einher. Und die lässt sich mühelos politisch instrumentalisieren.
Vor ein paar Tagen fuhr ich durch das hochneblige deutsche Herbstland, ausgerechnet am Rhein entlang, zur Lesung im Rahmen einer Germanistentagung. Ausgehend vom Motiv der „Heimat“ bei einem Dichter der Romantik ging es um den Heimatbegriff bis heute. Von einem der Veranstalter erfuhr ich, er habe dieses Thema in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung ausgewählt, denn eben der „Heimat“ sei der Kultursommer des Bundeslandes gewidmet gewesen. Ich wiederum sollte mit meinen Gedichten im Band Als sei es dein Verse über eine „Heimatkunde“ vortragen, die bei uns Volksschulkindern der Nachkriegszeit das „geistige Wurzelgefühl“ stärken und unsere „Bodenverbundenheit“ hatte fördern sollen.
Mit beidem konnte es in den 1960er-Jahren nicht weit her sein. Gerade erst waren Millionen und Abermillionen Deutsche, wie mein aus Hinterpommern stammender Vater, durch den Krieg entwurzelt worden. Andere lebten zwar noch auf dem Boden ihrer vertrauten Welt, doch auch sie waren entwurzelt, denn die vertraute Welt selbst war durch den Bombenkrieg verschwunden. Entwurzelt war, im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch meine Kindheitsheimat, wuchs ich doch in einer Neubausiedlung bei Frankfurt am Main auf, bei der es sich um eine Rodungsinsel im Wald handelte. Da lebten wir also, inmitten vieler deutscher Flüchtlingsfamilien, zwischen den beiden Betonkirchtürmen der evangelischen und katholischen Kirche, einem Einkaufszentrum und ringförmig angelegten Straßen in schnell und billig erbauten neuen Häusern, alles auf dem Reißbrett entstanden und in kürzester Zeit aus der Erde gestampft, traten auf dem Hof der Volksschule in Zweierreihen an und wurden mit der fernen Kunde einer Heimat traktiert, um die sich die Deutschen selbst gebracht hatten – und das gründlich, wie es ihre Art ist.
Nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten ein wenig in Vergessenheit geriet, steht die Heimat neuerdings wieder hoch im Kurs. Ihre Wiederkehr verdankt sich der politischen Instrumentalisierung von Rechtspopulisten und Rechtsextremen aller Art, wie der berühmte FPÖ-Slogan „Daham statt Islam“ oder Horst Seehofers „Heimatministerium“ belegen. Wer sich „die Heimat“ auf die Fahnen schreibt, gewinnt Wahlen, man muss nur „Meine Heimat, mein Thüringen“ plakatieren und schon verdoppelt man spielend sein bisheriges Ergebnis, die AfD hat es gerade bewiesen. Deutlich weniger erfolgreich war hingegen die in Thüringen bislang so starke CDU. Mit ihrem Wahlmotto „Heimat mit Zukunft“ versuchte sie zwar der Höcke-AfD in Sachen Heimatliebe den Rang abzulaufen – doch der Zusatz „mit Zukunft“, der dem Motto Seriosität verleihen sollte, sabotierte den eigenen Vorsatz und musste zwangsläufig zu Stimmenverlusten führen. „Heimat mit Zukunft“ ist nämlich nicht nur eine bereits zu inhaltsschwere Aussage verglichen mit der AfD-Wohlfühlformel. Sie ist vor allem eine contradictio in adjecto oder auch ein rundes Quadrat, ein Widerspruch in sich, denn die Heimat zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit der Vergangenheit verbunden ist, wenn nicht gleich mit der Kindheit und der Erinnerung an Sicherheit und Geborgenheit. Wer den Heimatbegriff politisch instrumentalisiert, will sich eine Sehnsucht zunutze zu machen, die in Zeiten von wirtschaftlicher Globalisierung und psychologischer Verunsicherung die Sehnsucht nach der „Welt von gestern“ ist.
„Bullerbü“ heißt diese Heimat beim Rechtsaußen-Höcke, dem studierten Historiker, ein Bullerbü, das er auf ganz verschiedene Heimaten bezieht, ob es sich um das Ostpreußen seiner Großeltern handelt, von dem sie dem Kind erzählten, das das Idyll als Erwachsener nie mit der Wirklichkeit vergleichen wollte (und den Verlust dieser Heimat offensichtlich nie auf ihre historische Wahrheit hin befragt hat); das Rheinland-Pfalz seiner Kindheit, die er im knapp 1500 Seelen zählenden Anhausen zwischen Wald und Wiesen verbrachte; oder das thüringische Bornhagen (nur noch 300 Einwohner), in dem der Zugereiste ein altes Pfarrhaus erwarb, wo er mit seiner Familie lebt. Dieses Bullerbü hat der Patriot Björn Höcke nach eigener Aussage aufopferungsvoll verlassen, um seinem Land zu dienen – indem er beschloss, Politiker zu werden.
„Bullerbü“ – das Lindgren’sche Kinderbuchidyll als Leitmotiv der politischen „Bewegung“ des Björn Höcke? „Bullerbü“, die heimatliche Welt von gestern als Rettung vor einer Zukunft, die aus „Islamisierung“ und „Überfremdung“ besteht? Unübersehbar, was mit der Hintergrundbotschaft von „Bullerbü“ als dem politischen Versprechen einer vermeintlich heilen Heimat verbunden ist: Die maßlose Infantilisierung und Regression der Gesellschaft und des Wählers. Damit sind auch Hass und Aggression auf alles, was der Wiedererrichtung der vertrauten Heimat im Wege zu stehen scheint, umso leichter zu mobilisieren. Da das Ziel so positiv besetzt ist, so positiv wie das schöne und friedliche Leben des Björn Höcke im fünfhundert Jahre alten Pfarrhaus von Bornhagen, kommen sich Ressentiment, Wut und Feindseligkeit umso berechtigter vor. Sie verdanken sich ja einem durch und durch „unschuldigen“ Wunsch.
In besagtem Rückfall auf geistiger und emotionaler Ebene zählen keine Argumente, und Fakten werden grundsätzlich geleugnet. Dass es die selbst ernannten Hüter der Heimat sind, die ihre Länder als Erste an russische Oligarchen verschachern würden oder zum „Vogelschiss“ erklären, was zum Tode von allein sechs Millionen Deutschen führte (um von den „fremden“ Toten gar nicht zu reden); dass ihre geistige Brandstiftung den Boden für Mord und Totschlag bereitet – das alles spielt keine Rolle. Denn in der regressiven Sehnsucht nach der bitte wieder heilen Heimat taugen gute Gründe so wenig wie die der Mutter gegenüber dem Kind, das sich auf seine Forderung trotzig versteift hat.
In ihrem Buch Heimat – Geschichte eines Missverständnisses weist die Literaturwissenschaftlerin Susanne Scharnowski, deren Vortrag auf erwähnter Germanistentagung ich am anderen Tag leider verpasste, zu Recht darauf hin, dass „die Heimat“, dieses angeblich unübersetzbare, urdeutsche Wort, was es für eine politisch rechte Instrumentalisierung umso anfälliger macht, immer dann besonders hoch im Kurs stand, wenn sie historisch verloren ging, ob zu Zeiten der Industrialisierung oder nach dem Zweiten Weltkrieg, das heißt von der Heimat der Romantiker bis zum Heimatfilm der 1950/1960er-Jahre. Sie zeigt auch, dass die genuin romantische Heimat, beispielsweise bei Joseph von Eichendorff, selten politisch, sondern eher religiös konnotiert war – der Eichendorff’schen Mondnacht ist das mühelos anzumerken: „Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus / flog durch die stillen Lande / als flöge sie nach Haus.“ Freilich ist es von den großen romantischen Gedichten bis zum Förster vom Silberwald ein weiter Weg kulturellen Abstiegs, doch selbst für den deutschen Heimatfilm möchte Scharnowski eine Lanze brechen, wie überhaupt für „die Heimat“, bei der es sich um einen „menschenfreundlichen Begriff“ handele, da sie menschenfreundliche Dinge wie Vertrautheit, Überschaubarkeit und Bindung impliziere.
Bullerbü, möchte man meinen, hat nicht nur die Höcke-AfD, sondern auch die deutschen Hörsäle und Seminarräume erobert. Denn wenn mit der Sehnsucht nach Heimat das Unvertraute, schwer Erfassbare und Ungebundene aggressiv abgewehrt wird, ist es von der Humanität (des Wunsches) durch Nationalität (der Heimat) zur Bestialität (etwa in Chemnitz oder Halle) kein zu großer Schritt. Mir jedenfalls hängt der neudeutsche Heimat-Sprech zu den Ohren raus, vielleicht weil ich selbst so ein „heimatloser Geselle“ bin. Geworden bin ich es nicht zuletzt aufgrund meiner Kindheitserfahrungen einer kaputten und sich verstellenden deutschen Heimat, die mir immer nur un-heimlich war. Und je mehr Heimatgefühl und -Getue im Schwange sind, umso un-heimlicher wird sie mir wieder.
Jan Koneffke, geb. 1960 in Darmstadt. wespennest-Redaktionsmitglied seit 2004. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin, lebte in Rom und pendelt heute zwischen Wien und Bukarest. Letzte Veröffentlichungen: Ein Sonntagskind. Roman (2015), Als sei es dein. Gedichte (2018).
31.10.2019
© Jan Koneffke / wespennest
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