Andrea Roedig Wohnsitzmitgliedstaat
Europaweit wird das fehlende Interesse an den am 25. Mai anstehenden EU-Parlamentswahlen beklagt. „Die Europawahl ist den Deutschen herzlich egal“, betitelte zum Beispiel Die Welt einen Artikel zur befürchteten niedrigen Wahlbeteiligung. Dass Stimmabgaben europäischer BürgerInnen aber nicht nur am mangelnden Interesse, sondern auch an speziellen Fragen der Evidenz scheitern können, weiß Andrea Roedig.
Da hängt sie also wieder in meinem Wiener Hausflur, die „Kundmachung“ der Magistratsabteilung 62. Die letzte flatterte im Herbst am Pinnbrett, als Nationalratswahlen anstanden. Jetzt sind die Europawahlen dran, und da verrät der Zettel wieder – „bitte deutlich sichtbar im Hause anschlagen“ – die Anzahl der Wahlberechtigten in den jeweiligen Wohneinheiten.
Ehrlich gesagt ist das ziemlich komische österreichische Sitte, öffentlich und für alle sichtbar kundzutun, wer im Haus welche StaatsbürgerInnenrechte genießt. Das weckt einerseits Neugier, denn eigentlich sind immer erstaunlich niedrige Zahlen hinter den Wohnungsnummern verzeichnet. Wieso gibt es in Top 5 nur einen Wahlberechtigten, der Mayrhuber wohnt da doch mit seiner Frau, ist die etwa nicht …? Top 17 wird gar nicht erwähnt, klar, das sind Ukrainer oder Weißrussen, so wie sich das anhört, die dürfen eh nicht. – Die fürsorgliche Transparenz der Kundmachung mag Sinn haben, angeblich dient sie der Information und gibt die Möglichkeit, in einem beim Magistrat ausliegenden Wählerverzeichnis Änderungen zu beantragen. Ganz nebenbei stigmatisierend ist sie aber auch.
Meine Wohnungsnummer steht natürlich nicht auf der Kundmachung, denn ich bin Deutsche in Österreich. Seit mehr als sieben Jahren bin ich jetzt „da“, also hier. Das ist eine lange Zeit, lang genug, um in einem österreichischen Wählerverzeichnis vielleicht doch mal aufzutauchen. Die letzte deutsche Bundestagswahl habe ich öffentlich boykottiert, weil ich jetzt lieber in Österreich wählen würde, und zwar ohne dafür die Staatsbürgerschaft annehmen zu müssen.
Am 25. Mai 2014 liegen die Dinge natürlich anders. Jetzt geht es um Europa und da hätte ich sogar in Österreich wählen können, wenn … ja wenn ich früher auf die Homepage der Deutschen Botschaft in Wien geschaut und die dort angegebenen Alternativen richtig verstanden hätte.
Im Gegensatz zur österreichischen Kundmachung, kommt die für AusländerInnen geltende Wahlinformation ja nicht zu uns, wir müssen uns aktiv darum kümmern. O. K., der Staat hat da keine Bringpflicht gegenüber seinen landesflüchtigen Kindern. Aber das Holen der nötigen Information ist auch nicht ganz einfach: „Deutsche, die am Wahltag seit mindestens drei Monaten in den Gebieten der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Wohnung innegehabt oder sich sonst gewöhnlich aufgehalten haben, werden auf Antrag in ein Wählerverzeichnis in der Bundesrepublik Deutschland eingetragen“, erklärt die Homepage des deutschen Bundeswahlleiters, auf die die Deutsche Botschaft verlinkt. Selbst mit Abitur muss man sich ziemlich konzentrieren, um zu erfassen, was das genau heißt, nämlich: Ich muss einen „förmlichen Antrag auf Eintragung in ein Wählerverzeichnis“ stellen und eine Versicherung an Eides statt abgeben, dass ich nirgendwo sonst wähle. Den Antrag kann ich downloaden, ausdrucken und unterschrieben (zweifache Ausfertigung) an die Gemeindebehörde schicken.
Was sich der deutsche Bundeswahlleiter und ordentliche Menschen vielleicht nicht vorstellen können, ist, dass man an der Frage scheitert, welche um Himmels Willen die zuständige Gemeindebehörde ist? Die, in der ich zuletzt in einem Wählerverzeichnis eingetragen war? Die, in der ich zuletzt gemeldet war? Und war ich dort eigentlich per Hauptwohnsitz oder nur per Nebenwohnsitz gemeldet? Ich weiß das nicht mehr. Nach Angaben der Pressestelle des deutschen Bundeswahlleiters lassen sich im Schnitt weniger als zehn Prozent der Auslandsdeutschen ins Wählerverzeichnis eintragen. Das heißt, die große Mehrheit wählt einfach gar nicht mehr. Man ahnt irgendwie, warum das so ist.
Für die Europawahl gibt es aber eine zweite Möglichkeit, informiert die Homepage weiter: „Alternativ können Deutsche mit Wohnsitz in einem der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat an der Europawahl teilnehmen. … Wer als Deutsche oder Deutscher im Wohnsitzmitgliedstaat an der Europawahl teilnehmen will, sollte sich wegen näherer Informationen bitte an die in seinem Wohnsitzmitgliedstaat zuständigen Stellen wenden.“
Abgesehen davon, dass „Wohnsitzmitgliedstaat“ sehr hübsch klingt, frage ich mich, welche wohl die in meinem Wohnsitzmitgliedstaat zuständige Stelle ist? Vermutlich die Magistratsabteilung, die auf der „Kundmachung“ in meinem Hausflur steht. Wann hängt die Kundmachung aus? So gegen Ende März, Anfang April. Wann denkt überhaupt die gute BürgerIn an die Europawahl? So gegen Ende März, Anfang April. Der Stichtag für die Eintragung in die hiesige „Wählerevidenz“ (auch ein schönes Wort) wäre aber der 11. März gewesen. Manche Sachen gehen hier echt schnell.
Ich hätte so gern in Österreich gewählt, doch ich war zu spät. Zu spät kam auch die „Information des Bundesministeriums für Inneres“, die in der letzten Aprilwoche gütig in meinem AusländerInnenbriefkasten abgelegt war. Darin wurde ich darüber aufgeklärt, dass ich mich in eine „Europäische Wählerevidenz“ hätte eintragen lassen können. „Für diese Wahl geht das aber nicht mehr“, sagt man bei der Hotline, Stichtag 11. März. Ach.
Der Antrag auf Eintrag in ein deutsches Wählerverzeichnis ist jetzt in die Welt hinausgeschickt (Stichtag 4. Mai), und wenn die Post es schafft, den Brief binnen zehn Tagen nach Berlin zu transportieren (Feiertage dazwischen) und ich beim wilden Raten auf die richtige Berliner Gemeindebehörde getippt habe, kommt vielleicht eine Briefwahlunterlage. Ein Experiment. „In jedem Fall ist es aber verboten, mehr als eine Stimme abzugeben“, heißt es beim Bundeswahlleiter. Keine Sorge, eine einzige Stimme durchzubringen, ist schwer genug.
Andrea Roedig, geb. in Düsseldorf, promovierte im Fach Philosophie, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin, später Geschäftsführerin der Grünen Akademie der Heinrich Böll Stiftung. Von 2001 bis 2006 leitete sie in Berlin die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien, schreibt als freie Publizistin für diverse deutsche und österreichische Medien. Seit Mai 2014 Mit-Herausgeberin des Wespennest. Letzte Buchveröffentlichung: Über alles, was hakt. Obsessionen des Alltags (Klever 2013).
12.05.2014
© Andrea Roedig / wespennest
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