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Andrea Roedig
Mutterobjekt

Als 65-jährige (werdende) Mutter bot Annegret Raunigk kürzlich Anlass, die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin erneut zu diskutieren. Ebenso relevant wie politische und ethische Fragestellungen sind dabei die Paradoxien medialer Inszenierung. Andrea Roedig über ein Kammerspiel auf RTL.

Besonders perfide ist die Szene mit dem Kinderwagen. Da gehen Annegret Raunigk und ihre neunjährige Tochter zusammen mit der RTL-Moderatorin in ein Kaufhaus, um schon mal nach der nötigen Ausstattung für Vierlinge zu schauen. Kamera läuft mit. Hm, also standardmäßig führe man keine solchen Kinderwagen, sagt der sauber bebrillte Verkäufer und wiegt in der Hüfte. Im letzten Jahr habe sich eine Mutter von Fünflingen mit einem Zwillings- und zusätzlich einem Drillingswagen beholfen. „Oje, aber sie ist alleinerziehend, das kann sie ja nicht schieben“, sagt die RTL-Moderatorin und deutet auf Raunigk. Darauf der Verkäufer: „Ja, das ist eine Herausforderung.“ Man diskutiert den Preis von Sonderanfertigungen, die Moderatorin reißt die Augen auf in gespielter Hilflosigkeit, zeigt wieder auf Raunigk und verrät dem Verkäufer: „Sie hat schon 13 Kinder.“ – „Ach Gott, Mensch“, sagt der. „Jeder sagt ‚ach Gott’, keiner sagt ‚wie toll’“, beschwert sich Raunigk und fällt in dieses eigentümlich flache Lachen, das bitter sein könnte. Sie ist allein auf ihrem Posten und lässt sich hier prächtig vorführen.

RTL und Bild am Sonntag halten die Exklusivrechte an der „Sensationsschwangerschaft“ von Annegret Raunigk. Als sie Mitte April mit der Geschichte jener Deutschen herauskamen, die als 13-fache Mutter und 7-fache Großmutter jetzt im Alter von 65 noch einmal mit künstlich induzierten Vierlingen schwanger geht, war das ausführliches Thema in vielen deutschen und internationalen Medien.
Und in der Tat gibt es da viel zu diskutieren, denn Raunigks Fall in seiner Übertriebenheit macht Systemparadoxien besonders deutlich. Hier verbindet sich archaischster Naturbegriff – die Frau als potent Gebärende – mit modernster Technik. Paradox mag man auch finden, mit welch verzweifelter Pfleglichkeit der wohlhabende Norden ans Kindermachen geht, während zur selben Zeit – ebenfalls ein Medienthema – die geburtenstark aus dem Süden heraufkommenden Flüchtlinge zu Tausenden im Meer ertrinken. Paradox mutet natürlich auch der Versuch an, körperliche Beschränkungen, die Endlichkeit selbst, mit Hilfe einer offenbar vollends wild gewordenen Reproduktionsmedizin immer weiter auszuhebeln, notfalls auch über den Zeitpunkt der biologischen Fruchtbarkeit hinaus. Wenn es doch möglich ist, warum sollte Raunigk da nicht noch weitere Kinder bekommen? Gehört ihr Bauch ihr? Zunächst einmal gehört er RTL.

Denn jenseits der ethischen und politischen Urteile, die sich beim Phänomen „Grandmother-Moms“ aufdrängen, sollte man einen genaueren Blick auf die RTL- Dokumentation über Raunigk werfen, die im Internet zugänglich ist. Es ist ein seltsames, absurdes Kammerspiel, von dem noch nicht ganz klar ist, was es eigentlich zeigt und bedeutet.
Die Moderatorin Birgit Schrowange stattet hier Raunigk in Berlin einen Besuch ab. Man sitzt im Wohnzimmer und spricht über die drängenden Fragen. Wie stellt sich Raunigk das denn vor, mit 70 alleine vier Kleinkinder großzuziehen, oder mit 80 vier Pubertierende? Man schaut Bilder der Großfamilie an: Hat Raunigk wirklich zu allen Kindern eine gleich innige Beziehung? Man zeigt Raunigk im Kinderzimmer der neunjährigen Tochter, die spät, aber noch auf „natürlichem Weg“ zur Welt kam, man zeigt Raunigk erschöpft auf der Treppe sitzend, man geht gemeinsam spazieren – immer wieder geht die Kamera auf den gewölbten Bauch der Mutter, an den sich sehr oft und sehr eng die jüngste Tochter schmiegt.

Moderatorin Schrowange, sehr gut aussehend und flott zurechtgemacht, strickt ein Gewebe aus pseudoempathischer Vertrautheit – wir reden hier von Frau zu Frau –, das sie mit kleinen Stichen versetzt. „Und dabei ist Frau Raunigk erst im fünften Monat schwanger.“ Es ist, als müsse Raunigk die ganze Zeit gegen eine als interessierte Nachfrage daherkommende Verurteilung anschwimmen, und es ergibt sich ein zähes Pingpong zwischen der unablässigen Frage „Ja, geht das denn, in Ihrem Alter?“ und der stupiden Abwehr Raunigks. Jeder Mensch sei eben anders, sie fühle sich fit genug und man solle sich nicht in das Leben anderer mischen.
Der ganze Film ist eine Verletzung, eine Selbstverletzung vermutlich. Das geht bis in die Bildregie hinein, denn in dem Trio Raunigk, Tochter und Schrowange sieht die jugendliche Moderatorin aus wie die richtigere Mama für das Kind (dabei ist Schrowange, was man ihr nicht ansieht, auch schon über die Menopause hinaus.) Raunigk hat dieses trockene Lachen. Sie wirkt auf dünne Weise selbstbewusst, aber eigentlich ist sie nicht wirklich da. Auf die Frage, warum sie noch einmal schwanger werden wollte, gibt sie zur Antwort, ihre Tochter habe sich noch ein Geschwisterchen gewünscht. Wer ist hier das Subjekt?

Sibylle Lewitscharoff nannte in ihrer umstrittenen Dresdener Rede (2014) Kinder, die aus reproduktionsmedizinischen Verfahren hervorgehen, „zweifelhafte Geschöpfe“ „Halbwesen“. Doch in Wirklichkeit scheint die solcherart behandelte Mutter das Mischwesen zu sein, ein eigenartiger Hybrid, ein Freak. Eine Frau mit 13 Kindern von fünf verschiedenen Vätern, die mit 65 und ohne Mann vier weitere Kinder austrägt – früher wäre sie eine Hexe gewesen. Man denkt an die Ausstellung von Monstren und lebenden Kuriositäten, wie sie früher auf Jahrmärkten üblich war, und Raunigk, das Mutterobjekt, lässt da etwas mit sich machen. Vermutlich wird RTL für die Kosten des Vierlingskinderwagens aufkommen und dann auf dem Scheiterhaufen der Exklusivberichterstattung ein fröhliches Feuerchen entfachen.


Andrea Roedig, geb. in Düsseldorf, promovierte im Fach Philosophie, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin, später Geschäftsführerin der Grünen Akademie der Heinrich-Böll-Stiftung. Von 2001 bis 2006 leitete sie in Berlin die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien, schreibt als freie Publizistin für diverse deutsche und österreichische Medien. Seit Mai 2014 Mit-Herausgeberin des Wespennest. Letzte Buchveröffentlichungen: Über alles, was hakt. Obsessionen des Alltags (Klever 2013) und Bestandsaufnahme Kopfarbeit (gem. mit Sandra Lehmann; Klever 2015).

© 07.05.2015

Andrea Roedig / wespennest


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