Jan Koneffke Von der Dämonie des Fremden und dem ostdeutschen Unmut der Selbstbefremdung
Unter der fragenden Aufforderung „Streitbar! Wie viel Meinungsfreiheit halten wir aus?“ lud das Kulturhauptstadtbüro Dresden 2025 die Autoren Uwe Tellkamp und Durs Grünbein am 8. März 2018 zu einem „Rededuell“, das für einige Aufregung in der literarischen Öffentlichkeit sorgte. Dabei war besonders auffallend, so die Beobachtung Jan Koneffkes, wie die mangelnde Kohärenz der Argumente zum Thema Meinungsfreiheit weitreichende Ressentiments sichtbar werden ließ.
Vor knapp zwei Jahren kam mir an der Bushaltestelle des Bamberger Bahnhofs der Sermon eines alten Zausels zu Ohren, der auf einen anderen alten Zausel einredete. Mit Absicht habe die Kanzlerin alle Schleusen geöffnet, um die Flüchtlinge ins Land strömen zu lassen. „Ist doch klar“, sagte er mit der lauten Stimme des Schwerhörigen, „was die Merkel vorhat. Die und ihre Stasispezis wollen das deutsche Volk ausmerzen.“ Sein Kumpel schwieg, unklar blieb, was er (akustisch und intellektuell) vom Gesagten verstanden hatte, und der andere redete ungehindert weiter. Ich war so fassungslos über diesen Un- und Irr-Sinn, dass ich den Bus, den ich mit den beiden bestiegen hatte, in schnellen Schritten durchquerte, um mich außer Hörweite auf einem freien Platz niederzulassen.
Freilich hat noch jeder Un- und Irr-Sinn seinen Sinn. Der fränkische Greis schimpfte nicht nur auf die Flüchtlinge. Seine Tirade verband sich mit dem schönsten Ressentiment gegen den (deutschen) Osten in Gestalt der aus der DDR stammenden Kanzlerin und ihrer vermeintlichen Stasibekannten.
An diese Episode musste ich wieder denken, als ich dem Streitgespräch zwischen Uwe Tellkamp und Durs Grünbein lauschte, das im März 2018 im Dresdner Kulturpalast stattfand. Wohl teilte Tellkamp in der Passage vom „Import des Islam als politischer Religion“ mit dem alten Bamberger die Angst vor der Bedrohung durch die Fremden aus dem Süden. Die Rede vom „Import“ ließ darüber hinaus an die Verschwörung denken, von der der alte Mann überzeugt war. Ein anderes Motiv der Tellkamp'schen Erregung, mit der er nach jedem zweiten Satz zum Wasserglas griff und schon mit seiner Körpersprache formulierte, wie viel Angestautes sich da Bahn brach, speiste sich aber gerade aus einer ostdeutschen und speziellen Dresdner Kränkung. Kurioserweise also machte der eine den DDR-Osten für die angeblichen Vorbereitungen zur Vernichtung des deutschen Volkes verantwortlich, während der andere, Tellkamp, die Schuld hauptsächlich in der westdeutschen Dominanz und ihrer arrogant-moralistischen Haltung sah, wenn Warnungen vor der „Überflutung des Landes“ (Safranski) durch die Fremden nicht ernstgenommen würden.
Ostdeutsche Stasi auf der einen Seite, westdeutscher Mainstreamjournalismus auf der anderen – und die Kanzlerin immer mittendrin. Daran zeigt sich, dass die Dämonie des Fremden viele Gesichter hat. Nicht nur der Afghane, Syrer oder Nordafrikaner ist verdächtig – bereits Ost- und Westdeutsche sind einander fremd genug, um Beunruhigung, Ressentiment und Abwehr auszulösen. Dass die Verunsicherung im Osten insgesamt noch größer ist als im Westen, wie sich an den Wahlergebnissen der AfD in den neuen Bundesländern zeigt, ist im Übrigen keine nur ostdeutsche Erfahrung, sondern entspricht den politischen Veränderungen in anderen osteuropäischen Staaten, von der Wiederkehr des Nationalismus bis zum Erstarken illiberaler, autokratischer Kräfte und Strukturen, die vermeintliche Sicherheit suggerieren.
Die tiefe, durch Globalisierung, Finanzkrise und Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt verursachte Verängstigung gebiert jene Dämonie des Fremden, von der die Menschen noch dort – ja besonders dort – beherrscht werden, wo es nur wenige Fremde gibt. Bei den Ostdeutschen besitzt sie aber doppelten Charakter: Sie selber sind sich fremd geworden. Bis 1989 glaubten sie zu wissen, wer sie sind und was sie wollen. Doch schon die frühen Jahre der Wiedervereinigung verliefen enttäuschend, Konsum- und Reisefreiheit konnten den lebensgeschichtlichen Bruch kaum und längst nicht für alle aufwiegen. Wie aber soll man vor sich selber bekennen, falsche Hoffnungen gehegt zu haben?
Den Ostdeutschen vorzuhalten, sie hätten vergessen, die DDR 1989 in erster Linie als „Wirtschaftsflüchtlinge“ verlassen zu haben oder mit dem Schlachtruf: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr!“ durch die Straßen gezogen zu sein, ist freilich kurzsichtig. Sicher, die von Tellkamp verbreitete (falsche) Zahl, laut der 95 Prozent aller Flüchtlinge nur in unsere Sozialsysteme einwandern wollten, belegt die zynische Leugnung der existenziellen Not, der die meisten Immigranten ausgeliefert sind. Zwar mögen längst nicht alle vor Krieg oder Folter fliehen – aber wie kann man nicht verstehen, dass Menschen besser leben wollen, zumal ihre heimische Misere nicht nur hausgemacht ist, sondern ihre Ursachen auch in der Politik jener reichen Länder hat, die von ihr sogar noch profitieren?
Dennoch haben die Ostdeutschen am Ende vielleicht das stärkere Sensorium für die Enttäuschungserfahrungen, die auch viele der Neuankömmlinge aus dem Süden machen werden, sozial, ökonomisch und kulturell. Diese Frustration, die sich zumeist in der zweiten Generation äußert, mag wiederum zu gesellschaftlichen Friktionen führen, zu einem Unmut und einer Radikalisierung, wie sie heute für den Osten an Pegida und AfD zu beobachten sind.
Wie viel an eigener Erfahrung in Tellkamps Äußerungen mitschwingt, lässt sich schon an der mangelnden Kohärenz eines Diskurses ablesen, der sich konkretistisch in Einzelheiten verliert. Tellkamp kann, wohl auch vor sich selbst, nicht zugeben, was seiner Erregung in Wahrheit zugrunde liegt. Weil er beim Thema „Meinungsfreiheit“ ins Schlingern kommt, schwächt er seine Forderung, seine Ansichten „ohne Furcht“ äußern zu können, zum feinen Unterschied zwischen „geduldeter“ und „erwünschter“ Meinung ab. Er verlangt „Respekt“ vor seinem Standpunkt, als ob das gebotene Forum nicht Beweis genug wäre, wie viel Respekt ihm entgegengebracht wird. Während aber die Opferrolle bei ideologischen Vertretern von Pegida und AfD dem Kalkül entspringt und das Schlagwort vom „Gesinnungskorridor“ nichts als verschleierte Projektion ist, mit der sie Diskurshegemonie beanspruchen, bis am Ende keine andere Meinung mehr „erwünscht“ ist als die ihre, bleibt im Auftritt Tellkamps die Kränkung offensichtlich. Ohne es zu sagen, vermutlich auch ohne es zu wissen, spricht der Autor für die Ostdeutschen, die sich als Menschen zweiter Klasse fühlen, lebensgeschichtlich entwürdigt, vom Westen nicht wirklich respektiert, was umso schwerer wiegt, als sie die glühendsten Verfechter der deutschen Vereinigung, Verehrer des Einheitskanzlers und Wähler seiner Partei waren.
Gewiss legt Tellkamp, als Schriftsteller und Intellektueller, mit seinen Ausführungen ein Armutszeugnis ab. Dabei muss man dem Mann gar nicht mit einer Moral kommen, auf die er besonders allergisch reagiert. Das meiste von dem, was er sagt, ist einfach oberflächlich, schlecht gedacht und teilweise nachweislich falsch. Unerträglich hingegen der Satz, dass die Beschimpfung „aller Andersmeinenden als Nazis“ erst die Nazis produzieren würde, „die es vorher gar nicht gab“, der sich wie das vorauseilende Verständnis für jene anhört, die einfach nicht anders konnten, als Nazis zu werden. Trotzdem ist ein authentischer Kern an seinem Auftritt in Dresden nicht zu verkennen. Er spiegelt sich negativ in seinem Gegenpart, dem anderen Dresdner, Durs Grünbein, der zwar mit der Stimme der Vernunft und Differenzierung spricht, über die man gleich dankbar sein möchte. Doch erweist er sich zu bald als Vertreter des Saturierten. Er, der selbstbekundete Kosmopolit, der weit über den ostdeutschen Niederungen schwebt, betont mehrfach, nicht alarmistisch gestimmt zu sein und erklärt (zwischen ernsthaft und ironisch) die FDP zu einer Partei der Opposition. Doch mit dieser (auch körpersprachlichen) Haltung wird er weder dem Ernst der Lage noch ihrem Subtext gerecht.
Jan Koneffke, geb. 1960 in Darmstadt. Wespennest-Redaktionsmitglied seit 2004. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin und verbrachte nach einem Villa-Massimo-Stipendium sieben Jahre in Rom. Heute lebt er als Schriftsteller und Publizist in Wien und Bukarest. Letzte Veröffentlichungen: Die sieben Leben des Felix Kannmacher (2011), Ein Sonntagskind (2015) und der Gedichtband Als sei es dein (2018).
07.05.2018
© Jan Koneffke / wespennest
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