Jan Koneffke Falsches Verständnis. Der Ukrainekonflikt aus deutscher und rumänischer Sicht
Die Konfliktsituation in der Ukraine versetzt Bevölkerungen, politische Verantwortliche und die Medien vieler Länder in Unruhe und scheidet die Geister. Jan Koneffke liest in Rumänien deutsche Zeitungen und hinterfragt das Verständnis deutscher Freunde für russische Sicherheitsinteressen.
Verkehrte Welt: Da hält, am 1. September 2014, der Bundespräsident, Joachim Gauck, eine Rede zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen, mit dem vor siebzig Jahren der Zweite Weltkrieg ausbrach, den das Deutsche Reich, ab 1941, auch gegen die Sowjetunion führte, und spricht, ausgerechnet zu diesem Anlass, vom heutigen Russland als „Aggressor”. Damit löst er aber weder in der Heimat nennenswerten Widerspruch aus noch bei seinen polnischen Gastgebern, die, ganz im Gegenteil, den Bundespräsidenten für seine klaren Worte gegenüber Putins Russland loben. Die Vorgänge in der Ukraine machen es möglich.
Mit zwei langjährigen, klugen deutschen Freunden komme ich auf den Krieg in der Ostukraine zu sprechen. Beide stehen politisch links, sind aber weit davon entfernt, Sympathien für Putin zu hegen. Trotzdem verweisen sie, unabhängig voneinander, auf die russischen Sicherheitsinteressen, die der Westen missachtet habe. In diesem Sinne müsse man die Reaktion des Kremls verstehen, der das Land von der Nato eingekreist sehe. „In Syrien”, sagt der eine, „wollten die Amerikaner nur den letzten Verbündeten der Russen im Nahen Osten schwächen, deshalb war ihnen der Bürgerkrieg dort ganz recht.” – „Hier in Frankfurt”, sagt der andere, „wurde eine harmlose Demonstration der Occupy-Bewegung von der Polizei eingekesselt, während Janukowitsch den revolutionären Majdan gewähren ließ.” – „Den Imperialisten Putin zu verteidigen gefällt mir überhaupt nicht”, meint der Erste, „aber den US-Imperialismus kann ich erst recht nicht verteidigen.”
„Ich ziehe den US-Imperialismus vor”, erwidere ich spontan, was gewiss auch daran liegt, dass ich nun schon seit vielen Jahren zum Teil in Rumänien zu Hause bin. Ich habe sie ja erlebt, die Emissäre von Hillary Clinton und John Kerry, die nach Bukarest reisten, um die rumänische Politik an rechtsstaatliche Prinzipien zu erinnern, an die Unabhängigkeit der Justiz, den Kampf gegen die Korruption – alles Dinge, die man im Russland des „Fitnesspolitikers Putin” (György Dalos) vergeblich sucht. Mag schon sein, dass die Bedingungen für eine Oligarchenherrschaft auch in Amerika längst geschaffen sind. Doch es gibt sie noch, die sich der demokratischen Tradition verdankenden gesellschaftlichen Antikörper. Nicht aus Zufall berief sich Viktor Orbán, Ungarns Regierungschef, der seit Jahren erfolgreich damit beschäftigt ist, die Gewaltenteilung auszuhebeln, in seiner vor Kurzem gehaltenen Grundsatzrede über „das Ende der liberalen Demokratie” nicht auf die USA, sondern auf seine Vorbilder Russland, China und Singapur.
Was die rumänischen Intellektuellen wiederum an den Vorgängen in der Ukraine besonders interessiert, das ist der Zusammenbruch des durch Korruption und Oligarchenherrschaft geschwächten Staates. Sie haben die These der Obama-Administration begierig aufgegriffen. Wenn der Staat, ohne funktionierende Institutionen und von Partikularinteressen ausgehöhlt, implodiert – übrigens einer der Gründe für Janukowitschs Hilflosigkeit gegenüber dem revolutionären Majdan –, wird er zur leichten Beute einer fremden Macht. Das versteht man hierzulande als Mahnung an die eigene Adresse, umso mehr, als Rumänien an die Ukraine grenzt (und nur ungern bald an Russland grenzen möchte).
Selbst wenn Gaucks Wort vom „Aggressor” Russland auf besagter Gedenkveranstaltung so gut wie keinen Widerspruch auslöste, reicht das „Verständnis für Putin” weit über die deutsche Linke und Rechte bis in die politische Mitte hinein. Dass der neue Zar ja nur die „russische Erde einsammeln” möchte, wie der stellvertretende Vorsitzende der „Alternative für Deutschland” Gauland (nomen est omen!) meint, ist sicher keine Mehrheitsmeinung. Aber dass sich 43 Prozent der Deutschen die Auflösung der Nato und viele eine größere Unabhängigkeit von den USA wünschen (die unverzeihlicherweise die deutsche Kanzlerin abhörten und Edward Snowden um den Erdball jagten, bis er bei Putin Asyl fand), spielt dem Kremlherrn in die Karten.
Denn wenn das Gauck-Wort vom Aggressor auch auf der falschen Veranstaltung fiel (ob gerade das der Grund für seine breite Akzeptanz war?), trifft es auf den von Putin geführten „hybriden Krieg” mit Sicherheit zu. Und auffallend ist, dass das Verständnis der sogenannten „Putinversteher” für das Opfer seiner Aggressionspolitik deutlich geringer ausfällt: Was die Ukrainer wollen, fällt kaum ins Gewicht. Nicht nur Wolf Lepenies (in einem Beitrag für die Zeit), auch Brüssel stellt sich wohl insgeheim die Ukraine lieber als Pufferstaat zu Russland vor, als „trading zone” an der Peripherie.
Vor allem machen die sogenannten „Putinversteher” keinen Unterschied zwischen den Sicherheitsinteressen Russlands und denen der Mafia im Kreml. Antiamerikanismus wollte man sich nicht vorwerfen lassen, als man gegen die Politik von George W. Bush demonstrierte. Aber dass die russische Bevökerung nicht dieselben Interessen hat (und haben kann) wie die herrschende Clique der Superreichen, sollte ein gerade der Linken nicht fremder Gedanke sein. So aber finden sich linke „Putinversteher”, ohne es zu wollen, plötzlich neben dem Front National, Viktor Orbán, den Faschisten von Jobbik und Berlusconi, allesamt Putinbewunderern, wieder.
Dass der Majdan ein Menetekel an der Kremlwand war, gehört zu den ersten Sicherheitsinteressen der dort regierenden Mafia. Auf einer Tagung in Bukarest sagte es die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko klipp und klar: Putins Russland funktioniert nach den Gesetzen des Raubtierkapitalismus. Man plündert die Ressourcen des Landes zu privaten Zwecken, und wo man dabei an seine Grenzen stößt (insbesondere wenn die amerikanischen Gas- und Ölvorkommen Kopfzerbrechen bereiten und die Preise verfallen), überschreitet man die zu den Nachbarländern. Statt in altes Blockdenken zu verfallen (als wäre der gegenwärtige, gänzlich unideologische Konflikt nur eine Fortsetzung des Kalten Kriegs) und Putin zu verstehen, wäre es vielleicht an der Zeit, die Ukraine besser zu verstehen.
Jan Koneffke, geb. 1960 in Darmstadt. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Wespennest seit 2004. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin und verbrachte nach einem Villa-Massimo-Stipendium sieben Jahre in Rom. Heute lebt er als Schriftsteller und Publizist in Wien und Bukarest. Werke (Auswahl): Paul Schatz im Uhrenkasten (2000; als TB 2010), Eine nie vergessene Geschichte (2008; als TB 2011), Die sieben Leben des Felix Kannmacher (2011; alle bei DuMont).
© 01.10.2014
Jan Koneffke / wespennest
|