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Wespennest Backlist
Andrea Roedig
Ein Hoch auf die Hälfte

Reduktion ist in aller Munde: Die Hälfte essen, die Hälfte konsumieren, die Hälfte an Emissionen ausstoßen – und damit abnehmen, den Klimawandel aufhalten oder mehr in Einklang mit der Natur leben? Das Halbe natürlich kann es nur dort geben, wo vorher ein Ganzes war. Andrea Roedig plädiert für eine Kultur des Weglassens. Sie tut dies mit aller gebotenen Kürze und in entsprechend kompakter Form.

FdH – „Friss die Hälfte“ heißt die wohl älteste und effektivste Diätregel, die neudeutsch als „Intervallfasten“ wieder in Mode gekommen ist. Kein Aufwand, keine benötigten Gerätschaften, das Prinzip ist so einfach, dass es nicht fehlgehen kann, und es ließe sich – sollte man meinen – als „Tu die Hälfte“ (TdH) auch auf Fragen der Umweltpolitik übertragen. Jenseits von Emissionszertifikatenhandel und Fairtrade-Eiapopeia hieße das schlicht: nur die Hälfte an Dingen produzieren, nur die Hälfte kaufen, nur jedes zweite Mal das Flugzeug benutzen, jede zweite Fleischmahlzeit einsparen, auf jede zweite Wegwerfflasche verzichten.

Bevor jetzt alle naheliegenden Einwände auf diese arme These niederprasseln, denken wir kurz übers Halbieren nach: Natürlich ist es nicht in jeder Hinsicht gut. Die Hälfte Luft, die Hälfte Platz, die Hälfte Licht, die Hälfte an Gehalt – bei knappen Ressourcen reicht die Hälfte nicht. Halb gewonnen, halbe Sachen machen, die halbe Wahrheit, der halbe Rücktritt eines Kanzlers, alles das sind schlechte Optionen.
Aber in erstaunlich vielen Hinsichten wäre die Hälfte gut genug oder sogar besser als das Ganze. Sie ist nicht Leere und nicht Fülle, halbieren heißt Lücken lassen, sodass Raum entsteht, Spielraum vielleicht. Die Hälfte könnte als pars pro toto durchgehen – ein Ding reicht, um mir alles zu erschließen, sie schützt auch vor preußischer Rigidität, denn die Hälfte steht für eine Haltung gemäßigter Prinzipienlosigkeit. Von zweien drücken wir ein Auge zu. Aber blind sind wir nicht. Die Hälfte ist ein Prinzip der Reduktion, der Mitte und des Teilens. Die Hälfte des Kuchens wollen die Frauen und sollen ihn haben; St. Martin teilte mit dem Schwert seinen Mantel für den Bettler, weil zwei Hälfen zweifach wärmen. Die Hälfte ist ein Gewinn an Gelassenheit, an Zeit, an Freiheit, und wenn sie ein Tier wäre, stellte ich sie mir als einen trägen Löwen vor, der souverän im Schatten liegt und hin und wieder Beute fängt.

Allerdings ist die Hälfte eine Bezugsgröße und gilt immer nur im Hinblick auf etwas Ganzes. Die Hälfte von nichts ist nichts, die Hälfte einer Bruchzahl ergibt das Doppelte. Ob Halbieren gut ist, hängt also von der Ausgangslage ab und vom jeweiligen Arrangement. Denn „halb“ heißt nicht nur „in der Mitte teilen“, sondern manchmal zu verdichten oder, umgekehrt, das reduzierte Quantum locker zu verteilen. An drei Tagen in der Woche jeweils 6,66 Stunden arbeiten oder an fünf Tagen jeweils 4 – beides wäre wunderbar. Oder doch zu langweilig?

Taugt TdH als ein Prinzip der Nachhaltigkeit? Zu viel Verzicht für Einzelne, zu ungerecht für Arme, verheerend für die Volkswirtschaft, nicht ausreichend für das, was insgesamt nötig wäre – jetzt dürfen die Einwände kommen. Schon gut, die These ist halb ernst gemeint, doch diese Hälfte steht sehr fest. Als Verhaltensregel für achtsameren Umgang mit Ressourcen ist TdH schlicht nicht zu schlagen. Weniger Müll, weniger Stress, weniger Unsinn in der Welt – wir könnten wirklich Gutes tun, indem wir vieles einfach lassen. Ach ja, auch dieser Wespenstich braucht nur die Hälfte seiner Zeichen.


Andrea Roedig, geb. in Düsseldorf, promovierte im Fach Philosophie. Von 2001 bis 2006 leitete sie in Berlin die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien, schreibt als freie Publizistin für diverse deutsche und österreichische Medien. Seit Mai 2014 Mitherausgeberin des wespennest. Ihr Essayband Schluss mit dem Sex erschien im März 2019 bei Klever. 2022 erscheint Man kann Müttern nicht trauen bei dtv.

04.11.2021

© Andrea Roedig / Wespennest


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