Andrea Roedig Fake News und die Nickgemeinschaften
Im April standen im „March for Science“ Tausende gegen die Verachtung akademisch gewonnener Erkenntnisse ein. Doch während auf dieser „Loveparade für die Wissenschaften“ alle nicken, kommt die eigentliche Bedrohung der Wissenschaft derzeit von anderer Seite. Andrea Roedig über Paradigmen, die man einmal genauer hinterfragen sollte.
„Make facts great again“ stand auf den Plakaten oder „we love experts“. In über 600 Städten weltweit lief am 22. April der „March for Science“, initiiert von US-amerikanischen Wissenschaftlern als Protest gegen die Münchhausiaden des neuen Präsidenten, gegen die laxe Auslegung von Wahrheit und die Verachtung akademisch gewonnener Erkenntnisse. Mit Trommeln, Sprechchören, Dinosauriermodellen und mobilen Physiklaboren wollte man der Welt zeigen, dass Wissenschaft etwas gilt und unverzichtbar ist für alles, was uns lieb und teuer ist. In Washington sollen 40 000 Menschen teilgenommen haben; in Berlin gingen 11 000, in Wien 3000 auf die Straße. Dass dem postfaktischen Schlendrian etwas entgegengesetzt werden muss, ist unbestritten, und dem Unternehmen, den kleinen und großen Trumps der Welt die Stirn zu bieten, gilt alle Sympathie. Dennoch könnte der Umstand erstaunen, dass wir heute nicht für Utopien auf die Straße gehen, eine bessere Gesellschaftsordnung, mehr Verteilungsgerechtigkeit oder Ähnliches, sondern für die Fakten. Als sei die Wirklichkeit ein schützenswertes Gut geworden.
Bei ‚Fakten’ oder ‚Tatsachen’ denkt man zumeist ganz realistisch an materielle Wirklichkeit und kausale Zusammenhänge: Die Dinge sind tatsächlich da und verhalten sich nach bestimmten Regeln: „it works“ (auch eine Plakataufschrift). Bei der Zusammenführung von H2 und O2 knallt es ordentlich, das kann jeder hören, weshalb beim „March for Science“ vor allem die Naturwissenschaften als politische Akteure auftraten und erwähnt wurden. Nun ist es, ehrlich gesagt, diesen sogenannten harten Wissenschaften in den letzten Jahren nicht gerade schlecht gegangen. Achtzig Prozent der Fördergelder des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gehen an Naturwissenschaften, Technik, Biologie und Medizin, zwanzig Prozent an die Geistes- und Sozialwissenschaften. Öffentlich gefördert, gefordert und mit hoher Reputation ausgestattet sind hierzulande vor allem die „Mint-Fächer“, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, denn sie gelten als Garanten für Fortschritt und Wachstum. Auch was die Vermittlung an die breite Bevölkerung angeht, stehen Naturwissenschaften und Technik nicht schlecht da. Auf den Wissenschaftsseiten der Zeitungen kommen ihre Inhalte jedenfalls cool und interessant daher. Der Nacktmull kann 18 Minuten ohne Sauerstoff auskommen, weil er bei Atemnot seinen Stoffwechsel auf Fructoseverwertung umstellt; aus Marsboden könnte man Ziegel herstellen, die härter sind als Stahlbeton; wenn Schüler sich in ihrer Klasse wohlfühlen, verlaufen auch ihre Hirnströme synchron – die schönsten Geschichten kommen aus der Naturwissenschaft. Geisteswissenschaftlerinnen – mit Ausnahme der Historiker vielleicht – können niemals so schön erzählen, so einfach, klar und erfrischend faktisch.
Neue Realismen, alte Moden
„Je weicher der Brei, desto fester die Prinzipien“, schrieb einmal Hans Magnus Enzensberger. Entgegen aller Befürchtungen hat der Glaube an Tatsachen Konjunktur, genau deshalb können Fake News so viel Schaden anrichten. Selbst in der Philosophie entdeckt man die Fakten wieder. Nachdem es lange Zeit Mode war, das Wirkliche bloß als Diskurs zu betrachten, kamen irgendwann die Evidenz wieder zum Vorschein und das Normative; derzeit reden viele vom Neuen Realismus. Auch das zwischenzeitlich verschollene Wort Ontologie – die Lehre vom Sein des Seienden – erscheint öfter wieder in Texten. Es gibt sogar Ontologien der Daten; die stammen allerdings aus einem anderen Fachbereich.
Womit wir zum Nicken kommen. Realismus oder Idealismus? Materie oder Geist? Nature or nurture? Determiniertheit oder Freiheit? Fakt oder Interpretation? Unentscheidbar sind diese Gegensätze, die Wahrheit liegt in der Mitte (oder in der Vermittlung), genickt wird aber meist zu einer Seite hin. So wie es in den Siebzigerjahren undenkbar gewesen wäre, nicht von sozialen Bedingtheiten zu sprechen, beteten die 2000er Gensequenzen herauf und herunter, während jetzt vor allem Botenstoffe im Hirn für alles Mögliche verantwortlich sind. In den Konjunkturen des Denkens schlägt das Pendel immer mal mehr zur einen oder mehr zur anderen Seite aus, und es bilden sich in Wissenschaft wie Öffentlichkeit Glaubens- oder Nickgemeinschaften, die sich über das in ihren Kreisen gültige Paradigma verständigen.
Trump ist eh doof
Wer genauer hinschaut, weiß, dass auch hard facts eine ziemlich schwammige Angelegenheit sind. „Fakten sind das Ergebnis eines oft langwierigen Prozesses“ sagte die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny beim Science-Marsch in Wien, und natürlich ging es bei der Demonstration nicht um Artenschutz für die Fakten, sondern um die Freiheit der Wissenschaft und der rationalen Diskussion. Die Errungenschaften der Aufklärung gegen Trump zu verteidigen, diesen Wolpertinger aus Mittelalter und Postmoderne, oder gegen Viktor Orbán, der die CEU schließen lässt, ist wichtig. Aber ein bisschen wohlfeil ist dieser „Aufstand der Verständigen“, wie die Zeit titelte, eben auch. Mit einer „Loveparade für die Wissenschaften“, die auch eine PR-Aktion ist, kann man beim Publikum gut offene Türen einrennen. Alle nicken. Wissenschaft klingt seriös und Trump ist eh doof. Unbenannt bleibt dabei der Fakt, dass die eigentliche Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft derzeit ganz woanders liegt, nämlich bei den Universitäten selbst und ihrer hemmungslosen Unterwerfung unter die Zwänge von Wettbewerb, Effizienz und Profit. Man kann nur ungläubig staunen über den feigen Kotau vor der Logik der Zahl – 1000 peer-reviewed-Artikel als Ausweis von Exzellenz – und über die Stilblüten bürokratischer Poesie. Studierenden werden „Toleranzsemester“ gewährt, falls sie die „Regelstudienzeit“ nicht einhalten. Wer bitte denkt sich solch ein Wort aus: „Toleranzsemester“? Jetzt könnte ein Lamento folgen über Wissenschaftspolitik im Allgemeinen und die unsinnige Ausweitung naturwissenschaftlicher Standards auf Geisteswissenschaften im Besonderen. Kommt aber nicht. Denn sonst nicken wieder alle.
Andrea Roedig, geb. in Düsseldorf, promovierte im Fach Philosophie. Seit Mai 2014 Mit-Herausgeberin des Wespennest. Letzte Buchveröffentlichung: Bestandsaufnahme Kopfarbeit (gem. mit Sandra Lehmann; Klever 2015).
05.05.2017
© Andrea Roedig / wespennest
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