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Erich Klein
Stimmen ohne Chor. Zum Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch

Swetlana Alexijewitsch versus Wladimir Putin. Lässt sich eine Haltung zum Nobelpreis für Literatur wirklich so leicht zusammenfassen? Erich Klein hat sich mit einigen Kritiker-Reaktionen befasst und macht deutlich, dass nicht nur in deutschsprachigen Medien außerliterarische Kriterien Konjunktur haben.

Die Marketingabteilungen einiger Verlage von Stockholm über Berlin bis Madrid dürfen sich freuen über das Gezeter – der Literaturnobelpreis produziert noch immer eine Menge Lärm. Literatur, einst die schöne, dann „kritisch“ genannt, dann totgesagt, lebt die meiste Zeit des Jahres in Nischen, jeden Herbst aber bekommt sie einen Moment lang Aufmerksamkeit, als ginge es tatsächlich noch um Fragen der Ästhetik, um politische Positionen von Autoren und deren Haltung, gar um literarische Menschen- oder Weltbilder. Während akademisch Gebildete anlässlich der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch einer „Instrumentalisierung der Literatur“ das Wort reden, lautet, salopp gesprochen, das tagespolitische Match: Alexijewitsch gegen Putin. Wer nichts über Russland zu sagen wusste, räsonierte seinerzeit über Gorbatschow oder Jelzin, Pussy Riot oder Michail Chodorkowskij – und heute über Alexijewitsch. Und als gälte Walter Benjamins strategisches Wort über den Literaturkampf tatsächlich noch, demzufolge zu schweigen habe, wer nicht Partei ergreifen könne, heißt es aktuell in der westlichen Literaturkritik: Swetlana Alexijewitsch hat Wladimir Putin, die Okkupation der Krim und die Entfachung des Kriegs im Osten der Ukraine kritisiert. Welches Argument für eine Autorin, welches Argument für Literatur!

Mit der Verleihung des Literaturnobelpreises an die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch hat sich aber auch der alte Spruch von Boris Groys bewahrheitet, Russland sei das Unbewusste Europas. Im Reich dieses Unbewussten, in Russland und in der russischen Literatur, geht es dementsprechend vehement zu. Dazu ist zu erklären: Ohne Zweifel ist Swetlana Alexijewitsch ein Teil dieses ominösen Imperiums. Sie schreibt – wenn auch nicht nur für eine russische Leserschaft – auf Russisch und vor allem ausschließlich über „russische“, das heißt sowjetische und post-sowjetische, Themen. Ihr erstes Buch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, erschien zu Beginn der Perestroika und war in Russland ein Bestseller, nicht zuletzt, weil es Erfordernissen jener Zeit nach „Kritik“ und „Selbstkritik“ (des Systems) entsprach. Zinkjungen, über die sowjetischen Teilnehmer des Afghanistankrieges, wurde kurze Zeit lang heftig akklamiert, verschwand aber mit dem Ende des Afghanistankrieges und wurde aus der russischsprachigen Öffentlichkeit von einer Flut an affirmativen, aber auch einigen kritischen Afghanistan-Filmen verdrängt. Das „Requiem“ über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl fand vor dem Hintergrund der untergehenden Sowjetunion im Vergleich zu den früheren Büchern eine vergleichsweise kleine Leserschaft. Mit der Publikation von Secondhand-Zeit schließlich kehrte die in den 1990er- und 2000er-Jahren in Westeuropa lebende Autorin zwar zu einer russischen Leserschaft zurück, allerdings nur noch in einem sogenannten intellektuellen Kleinverlag. Die als unendlicher Chor diverser Stimmen literarisch inszenierte Reflexion über den „Tod des roten Menschen“, wie das Buch im Untertitel im Original hieß, ging in den Dissonanzen des tagespolitischen Geschreis vollends unter.

Um so lauter waren und sind die russischen Reaktionen auf die Verleihung des Nobelpreises an eine derart marginalisierte Autorin. Es geht dabei um Deutungshoheit in einem nach wie vor „literaturzentristischen“ Land. Rechts- und linkskonservative Kritiker (Positionen, die in Russland praktisch ident sind) geiferten von „Nobelpreis für Journalismus“ (Wadim Lewental in der Iswestija) und sprachen Alexijewitsch den Status der Schriftstellerin ab, dazu kamen neo-stalinistische Verschwörungstheorien wie jene von Wladimir Bondarenko, das Nobelpreiskomitee wolle mit der Putin-Kritikerin Alexijewitsch der NATO ideologische Munition für einen Feldzug gegen Moskau liefern. Liberale (Putin-)Kritiker wie Gleb Morev erklärten die Auszeichnung der Reportagebücher von Swetlana Alexijewitsch zur Heiligsprechung der Non-Fiction als wichtigstes Genre der Literatur; der üblicherweise „kleine Mann“ ohne Stimme sei in seiner Würde geehrt worden. Die Schriftstellerin Olga Sedakowa erkannte in der Verleihung des Nobelpreises an Alexijewitsch das Ende ironischer Postmoderne. Als eine Position der Mitte, die Literatur nicht vorrangig als Instrument des politischen Kampfes versteht, kann das beredte Schweigen betrachtet werden, auf das der renommierte liberale Kritiker Denis Dragunskij in einem Facebook-Posting anekdotisch hinwies: „Ich wurde vom Fernsehen gebeten, einen positiven Kommentar zur Verleihung des Nobelpreises an Swetlana Alexijewitsch abzugeben. Auf meine Frage, was denn los sei, und ob sich kein anderer, bekannter oder arrivierter Schriftsteller dazu bereit erklärt habe, erhielt ich die Antwort: ‚Die einen regen sich auf, die anderen wollen nichts dazu sagen.’“ Tatsächlich meldete sich keiner der großen russischen Schriftsteller von Andrej Bitow über Fasil Iskander bis zu Wladimir Sorokin zu Wort, die immer wieder als Kandidaten für den Literaturnobelpreis genannt werden. Mehr als förmliche Glückwünsche, garniert mit ein wenig herablassender Höflichkeit, war von Moskauer Autorenkollegen nicht zu vernehmen.

Welche Schlüsse dürfen wir als deutschsprachige Leser aus dieser turbulenten russischen Diskussion ziehen? Swetlana Alexijewitsch hat einige brauchbare Bücher verfasst, die Russlandkritikern und „Putin-Verstehern“ (nebenbei eine der dämlichsten Wortbildungen seit dem Versuch, den „Gutmenschen“ zu diskreditieren) ans Herz zu legen sind. Man erfährt darin auf geradezu altmodische Weise eine Menge über Weißrussland und Russland sowie über den postsowjetischen Raum. Bisweilen sind dessen ideologische Verwerfungen mit schwer erträglicher, zumindest gewöhnungsbedürftiger stilistischer Opulenz beschrieben – einfacher ist das Ganze bei Alexijewitsch für das westliche Publikum nicht zu haben. Ob der Leser ein Recht auf Richtigstellung der manchmal willkürlich anmutenden Abstrusitäten der „Stimmen“ von Swetlana Alexijewitsch besitzt, muss dieser selbst entscheiden. Am Ende der Lektüre steht Ratlosigkeit. Swetlana Alexijewitsch befindet sich in guter Gesellschaft, zumindest in jener ihrer russischen Nobelpreis-Vorläufer. Von Iwan Bunin (und seinen fallweisen antisemitischen Ausfällen) bis Joseph Brodskij (und dessen posthum bekannt gewordenen antiukrainischen Tiraden) passt keiner dieser Autoren zum aufgeklärten europäischen Common sense. Vermutlich ist es genau das, was Russland als das Unbewusste Europas ausmacht.


Erich Klein, geb. 1961 in Altenburg (Niederösterreich), freier Publizist, Übersetzer und Kurator; Wespennest-Redaktionsmitglied seit 2005. Übersetzungen aus dem Russischen, zuletzt der Roman Sankya von Zakhar Prilepin (gemeinsam mit Susanne Macht, 2012)



05.11.2015


© Erich Klein / wespennest


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