Jan Koneffke Die „Antideutschen“. Über einen neuen Kampfbegriff bei alten Linken
AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel stimmte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl am 19. September in Wien in dessen Ruf nach der „Allianz der patriotischen Kräfte“ ein. Die Erläuterung, wie eine solche Allianz bei der Europawahl im Juni 2024 die offenkundigen Widersprüche in der ultrarechten Auslegung des „Europas der Vaterländer“, einst Schlagwort Charles de Gaulles, überwinden wolle, blieben beide schuldig. Dass es allerdings zum Schaden der Rechten sei, wenn auch die alte Linke dem Nationalismus ein Lied singt, ist ein Fehlschluss, wie Jan Koneffke in einem Rückblick auf die Dogmen eines umtriebigen Bekannten seiner Jugendjahre festhält.
Neulich geisterte mal wieder sein Name durch die Medienwelt. Nein, diesmal hatte er sich nicht in Moskau impfen lassen und war auch nicht auf die Idee gekommen, die deutsche Außenministerin als „NATO-Stricherin“ zu schmähen – das wäre ja auch zu eindeutig frauenverachtend gewesen, während der auf Heiko Maas gemünzte „NATO-Strichjunge“ mit seinem homophoben Unterton viel hinterhältiger saß.
Wenn sein Name fällt, horche ich jedenfalls auf. Denn ich kenne Diether Dehm, bis vor Kurzem Abgeordneter der Linken und Teil der Sahra-Wagenknecht-Fraktion, der in seiner Frühzeit als Lerryn zur Klampfe griff, seit meinen Teenagerzeiten. 1974 lernten wir uns auf der Burg Waldeck kennen, wo ich die Ostertage in einem Zeltlager verbrachte, während nebenan – in Erinnerung an die glorreichen Chanson- und Folklorefestivals der 1960er-Jahre – ein Liedermachertreffen stattfand.
Nach dieser zufälligen Begegnung nahm der damals 24-Jährige mich, den 13-Jährigen, unter seine Fittiche. Es folgten viele Treffen, und manchmal übernachtete ich auch bei den Dehms in Frankfurt. Wir sprachen über Literatur, maßgeblich über Brecht, über das Liedermachen, nicht zuletzt über Politik, wobei er mich eloquent auf den Pfad der linksdogmatischen Tugend führte, indem er mir auseinandersetzte, warum der Prager Frühling eine Verschwörung der CIA und der Einmarsch der Roten Armee notwendig gewesen sei. Lerryn war sympathisch und äußerst umtriebig.
Zweieinhalb Jahre später, kurz nach Wolf Biermanns Ausbürgerung, plante ich, auf einer Veranstaltung der DKP-Jugend in meiner Heimatstadt Lieder von Biermann zu singen. Mein Vorhaben sprach sich herum. Ich erhielt einen Anruf des örtlichen Vorsitzenden der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, der mir diesen Auftritt verbot. Daraufhin ließ ich Flugblätter drucken und verteilte sie am betreffenden Tag mit zwei Freunden vor der Veranstaltungshalle. Sofort stürmten drei Funktionäre ins Freie, rissen sie uns aus den Händen und schlugen einem der Freunde im Eifer des letzten Gefechts in den Bauch. Die Frankfurter Rundschau meldete den Vorfall unter der Überschrift: „Bei Biermannliedern sah DKP-Jugend rot“.
Da erhielt ich einen besorgten Brief von Lerryn: Er habe von meinen Taten gelesen und empfehle mir, rasch bei den Falken einzutreten, um nicht zum Antikommunisten zu werden. Als warnendes Beispiel nannte er Arthur Koestler. Dementsprechend rieb ich mir verwundert die Augen, als ich in der Zeitung las, er sei nun Wolf Biermanns Manager. Hatte er vor, Biermann davon zu überzeugen, dass Ludvík Svoboda und Alexander Dubček nichts als Agenten der Amerikaner gewesen seien? Oder hatte er doch den Auftrag, Biermann für die Staatssicherheit zu bespitzeln? Dehm hat das immer bestritten, er sei höchstens „abgeschöpft“ worden – doch fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie leicht man von Leuten abgeschöpft werden kann, mit denen man eines (politischen) Sinnes ist.
Er spielt den Naiven nicht glaubwürdig. Zwar war er nie mehr als ein Brecht-Epigone (dafür umso cleverer beim Texten von Schlagern), doch hat er dessen Dialektik zur gut geölten Maschinerie von Ablenkung und Relativierung gemacht. Auf einer bei Youtube dokumentierten Veranstaltung vom April dieses Jahres* erinnert sich Diether Dehm an den Willy-Wahlkampf von ’72. Damals war er Frankfurter Juso-Chef und Jugendwahlkampfleiter der SPD (bei seiner moskautreuen Haltung bemerkenswert!). Der Wahlslogan aus der Parteizentrale: „Deutsche. Wir können stolz sein auf unser Land“ sei ihm seinerzeit aufgestoßen. Da habe er einen „dialektischen Einschuss gehabt“ und diesen Slogan mit dem Foto von Brandt plakatiert, wie der vor dem Denkmal des Warschauer Aufstandes kniet.
Nun mag die Versöhnung Willy Brandts mit dem Land, das ihn, den verleumdeten Emigranten, zum Kanzler gewählt hatte, lebensgeschichtlich verständlich sein. Und der Erfolg dieses Slogans zeigt, dass das noch Jahre zuvor von Adenauer vermisste „Nationalgefühl“ in Wahrheit äußerst lebendig war. Die Trauerarbeit um die deutschen Verbrechen hatte in der Gesellschaft nie stattgefunden: Und Brandts Kniefall war der symbolische Ersatz, der sie – stellvertretend – entlastete (die Trauerarbeit übernahmen die Opfer und die Verfolgten).
Nicht von ungefähr kramt der einstige Frankfurter Chef der Jungsozialisten – freilich vor einem nicht mehr unbedingt taufrischen Publikum – den erfolgreichen Slogan der Willy-Wahl aus der politischen Mottenkiste. Und nicht aus Zufall zitiert er ihn falsch: „Deutsche. Wir können wieder stolz sein auf unser Land.“ Der Nationalismus war Brandt nicht fremd, spätestens bei der deutschen Wiedervereinigung ließ es sich nicht übersehen. Doch 1972, gerade ein Vierteljahrhundert nach den Nazis, hätte er niemals davon gesprochen, man könne auf Deutschland wieder stolz sein.
Diether Dehm aber tut es. Er hat sich ja auch schon darüber beklagt, die Nazis hätten der Linken nicht nur das Wort „sozialistisch“ gestohlen, sondern auch den Begriff „national“. Dagegen hat er schon früher einen „nationalen Internationalismus“ beschworen, als wolle er, unfreiwillig komisch, den Slogan der AfD vom „Europa der Nationen“ global übertrumpfen.
Er würde sich auf das Schärfste dagegen verwahren, darüber besteht kein Zweifel! Geübt in „dialektischen Einschüssen“ behilft er sich mit der Brecht’schen „Kinderhymne“: „Und weil wir dies Land verbessern/ lieben und beschirmen wir’s/ und das liebste mag’s uns scheinen/ so wie andern Völkern ihr’s.“
Schön und gut, will man meinen: „Wie andern Völkern ihr’s …“. Das ist uns ja ein schönes „Europa der Nationen“, wo jedem die eigene die liebste scheint. Denn Brechts Gedicht mag zwar listig sein, doch zur Nationalhymne hätte es eben auch getaugt. Und so kommentiert Diether Dehm auf besagter Veranstaltung: „Damit ist schon alles gesagt …“ – nun denn! – um daraufhin stammelnd fortzufahren: „… und die Antideutschen kommen jedenfalls nicht zu ihrem Recht dabei und Brecht hat das in der ganzen Würde ausgedrückt“.
Wer aber sind diese „Antideutschen“, die ihm so verräterisch über die Lippen kommen? Menschen, die sich eher als Europäer begreifen denn als Deutsche? Kosmopoliten aller Art? Heimat- und Vaterlandslose? Ausländer und Asylanten? Muslime? Juden? Anzunehmen, diese „Antideutschen“ müssten seinen nationalen Sozialismus fürchten.
Und wo will er mit diesem Sozialismus in den deutschen Grenzen (von wann?) eigentlich hin angesichts globaler Klima-, Flüchtlings-, Kriegs- und sonstiger Katastrophen? Oder haben wir es hier ausnahmsweise mit keinem „dialektischen Einschuss“ zu tun, sondern mit einem (begriffs)taktischen Verwirrspiel vermeintlich zum Schaden der Rechten? Es wäre doch nur ein ganz undialektischer Einschuss ins eigene linke Knie …
Der Rückgriff auf den Nationalismus belegt vor allem, wie schlecht diese Linke gealtert ist. Die alten Gewissheiten kamen abhanden, jetzt hält man sich an die noch älteren. Vor diesem nationalistischen Hintergrund kann Dehm vom „Frieden mit Russland“ schwadronieren (als sei der Aggressor in Wahrheit das Opfer), denn diese Linke hat ihren Frieden mit dem nationalistischen Krieg des Herrn Putin gemacht. „Ami go home“, singt der damals wie heute moskautreue Lerryn, als seien die Amerikaner noch in Vietnam, und träumt wahrscheinlich klammheimlich von einer stolzen Großmacht Deutschland, die einen eigenen Pakt mit Putin schließen könnte – ob das den Ukrainern, Rumänen und Polen und anderen „Puffer“-Völkern gefällt oder nicht.
1943 sprach Thomas Mann vom Antikommunismus als „Grundtorheit unserer Epoche“. Ein Autor wie Joseph Roth wusste es besser: Die Grundtorheit war der Nationalismus – und ist es bis heute geblieben. Am Ende ist er der Totengräber der auch von Dehm viel beschworenen Heimat**, vom Buchenland der Bukowinadeutschen bis zu Sudetenland, Schlesien, Ostpreußen und anderen verlorenen Heimaten.
Übrigens: In einem Interview bekannte Diether Dehm, dass er Joseph Roth „vergöttere“ – doch der Dichter der Heimat aller Heimatlosen, dieser zweifellos „antideutsche“ Autor, hätte ihm seinen nationalen Sozialismus um die Ohren gehauen!
* Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ILbnv8yRl90
** Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Diether_Dehm: „Dehm tritt dafür ein, den Begriff ‚Heimat‘ nicht den Rechten zu überlassen, und warnte davor, Heimatgefühle ‚erziehungsdiktatorisch‘ unterdrücken zu wollen.“
Jan Koneffke, geb. 1960 in Darmstadt. wespennest-Redaktionsmitglied seit 2004. Er studierte Philosophie und Germanistik in Berlin, lebte in Rom und pendelt heute zwischen Wien und Bukarest. Letzte Veröffentlichungen: Als sei es dein. Gedichte (2018), Die Tsantsa-Memoiren. Roman (2020), Dudek. Jugendroman (2023), Vulturii orbi / Die blinden Adler. Gedichte von Nichita Danilov, aus dem Rumänischen übersetzt von J.K. (2023), Im Schatten zweier Sommer. Roman (erscheint im Januar 2024).
04.10.2023
© Jan Koneffke / Wespennest
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