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Bankrott
Nach dem altrömischen Zwölftafelgesetz war es Gläubigern erlaubt, einen Schuldner zu ergreifen und festzusetzen, ihn als Sklaven zu verkaufen, gegebenenfalls auch zu töten, und, so heißt es kryptisch im Gesetz, sich „Teile zu schneiden“. Ob dieser Gesetzestext Shakespeares Shylock, viel später, dazu veranlasste, ein Pfund Fleisch aus dem Körper seines Schuldners Antonio zu fordern?
Bankrott heißt heute sanfter „Insolvenz“, doch die geht um wie nie – in Deutschland stieg 2024 die Zahl der Firmenpleiten gegenüber dem Vorjahr um knapp 17, in Österreich um 22 Prozent, und es sind große Namen betroffen, Tupperware, Signa, KTM. Das Thema des wespennest-Herbstschwerpunkts ist also brandaktuell und zeitlos existenziell: Der Bankrott ist ein GAU und der Sand im Getriebe des Tauschhandels – oder ist er doch das Schmieröl, das alles im Laufen hält?
Im Heft widmen wir uns aber auch Bankrotterklärungen, die weit übers Ökonomische hinausgehen und unter anderem von Einfamilienhäusern und Briefmarken handeln; immer geleitet von der Frage, was und wer dem System von Schuld und Begleichung wohl entkommt. Ist der Bankrotteur in Wahrheit nicht ein glamouröses Schlitzohr, ein Agent der fröhlich-sinnlosen Vergeudung? Antworten darauf und weitere Fragen finden sich im Themen-Schwerpunkt.
Wie immer gibt es jenseits der Themenbeiträge einen Buchbesprechungsteil und zahlreiche weitere Texte: Natalie Lettner erkundet in Costa Rica die (öko)touristischen Pfade der Birdwatcher-Gemeinde, und Stephan Steiner erinnert sich im ersten Teil seines ausführlichen Porträts an Hans G Helms, eine der „seltsamsten und eindrücklichsten Persönlichkeiten der Kunst- und Wissenschaftsszene der Nachkriegszeit“. Neben neuen Gedichten von Anne-Marie Kenessey und Christoph W. Bauer, Christian Steinbachers Übertragung einer Auswahl aus Michèle Métails 500 inconnues de l’ère Heisei (2024) und einem Ausschnitt aus dem 2026 erscheinenden neuen Roman von Gabriela Adamesteanu in der Übersetzung Jan Koneffkes ist in diesem Heft u.a. auch die deutschsprachige Übersetzung des Gedichts zu lesen, mit dem sich die wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ angeklagte und verurteilte russische Autorin und Theatermacherin Jewgenija Berkowitsch anlässlich einer Anhörung vor Gericht verteidigte.
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Prozentzahlen können richtig und irreführend zugleich sein. Was eine Statistik aussagt, ist oft Anlass für ideologische Debatten. Was sie hingegen nicht aussagt, sollte außer Streit stehen. In Bezug auf die deutsche polizeiliche Kriminalstatistik etwa die Tatsache, dass diese grundsätzlich nur strafrechtlich relevante Sachverhalte aufführt, die der Polizei bekannt wurden. Juristisch sind diese damit noch nicht bewertet. Und: Staatsschutz- und Verkehrsdelikte sind darin ebenso wenig erfasst wie Finanz- und Steuerdelikte oder Straftaten, die außerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen wurden. Aufmerksame Leser:innen der Süddeutschen Zeitung haben in Bezug auf deren Berichterstattung zur kürzlich öffentlich gemachten aktuellen deutschen Kriminalstatistik die Journalist:innen ihres Blattes eindrücklich ermahnt, mehr relativierende Vorsicht bei der Interpretation von Prozentzahlen walten zu lassen. Von „verzerrungsfreier“ Auslegung weit entfernt ist – insbesondere in Vorwahlzeiten – aber auch so manche (partei)politisch motivierte Forderung nach mehr statistischer Differenzierung. Jan Koneffke ließ sich davon satirisch inspirieren und findet: Da geht noch mehr!
AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel stimmte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl am 19. September in Wien in dessen Ruf nach der „Allianz der patriotischen Kräfte“ ein. Die Erläuterung, wie eine solche Allianz bei der Europawahl im Juni 2024 die offenkundigen Widersprüche in der ultrarechten Auslegung des „Europas der Vaterländer“, einst Schlagwort Charles de Gaulles, überwinden wolle, blieben beide schuldig. Dass es allerdings zum Schaden der Rechten sei, wenn auch die alte Linke dem Nationalismus ein Lied singt, ist ein Fehlschluss, wie Jan Koneffke in einem Rückblick auf die Dogmen eines umtriebigen Bekannten seiner Jugendjahre festhält.
Der literaturhistorische Blick zurück mag der in einen Zerrspiegel sein. Und doch macht er gesellschaftliche Verhaltensweisen im Krisenfall sichtbar, dessen Symptome auf einen Nenner gebracht werden können: kapitalistische Produktion – brennen, bis nichts mehr bleibt. Ein Gegenentwurf, findet Florian Baranyi, müsste auf einen Stoff setzen, der sich nicht vernutzen lässt.
Mit frei verfügbaren Übersetzungsprogrammen lassen sich selbst komplexe Satzkonstruktionen beeindruckend – oder erschreckend – gut übertragen. Thomas Eder konfrontiert eine viel gelobte Software mit einem „Holzwegsatz“ des US-amerikanischen Linguisten Thomas Bever und zeigt gewitzt ihre Grenzen auf. Hat die humane Textproduktion also doch eine Zukunft?
Am 13. April 2022 verstarb die italienische Fotografin Letizia Battaglia, die als Chronistin der sizilianischen Mafia unser Bild von der Cosa Nostra geprägt hat – inszeniert als Szenen eines Stücks mit klar umrissenen Rollen. Florian Baranyi rückt der Theatermetapher in Zeiten von Krieg auf den Leib.
Die Welt ist eine andere geworden – und dreht sich doch weiter. Während Russland den Krieg gegen die Ukraine unentwegt anfacht und viele Menschen auf der Suche nach einem sicheren Ort ihre Städte und Dörfer verlassen, gehen wir hier unbeirrt unserem Alltag nach. Ist das zulässig? Und kann die Beschäftigung mit Literatur etwas zum Verständnis der Situation beitragen? Lukas Meschik ringt mit einem bekannten Diktum Thomas Bernhards.
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|w188| Von komplexen Systemen und Einfacher Sprache, von eingängiger politischer Kommunikation und dem Lesen komplexer Texte – und was das mit Demokratie zu tun hat.
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|w187| Autos, vom Futurismus verherrlicht, haben ihre Schönheit eingebüßt. Motorisierte Beweglichkeit ist mit "Fossilscham" behaftet. Ein Heft mit utopischen Verkehrsentwürfen.
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|w186| Auf die Ängste der 1980er reagierte man mit dem Slogan „No Future“, heutige Bewegungen tragen „for Future“ im Namen. Was hat sich geändert an der Haltung zur Zukunft?
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wespennest 190 Risiko
Preis: EUR 14.00; erscheint am 06.05.2026
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